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Beilage zur Weitzeritz-Jeilung Nr 246 - Dienstag, am 21. Oktober 1930 96. Jahrgang Kurze Rottzen Die sechs volksnationalen Reichstagsabgeordneten Abel.' Adolph, Baltrusch, Bornemann, Hesse und Prütz haben zu der Aufforderung, ihr Mandat niederzulegen, eine Erklä rung abgegeben, in der sie das Ansinnen der Deutschen Staatspartei ablehnen. Reichskanzler Brüning und Reichsfinanzminister Diet rich treffen im Laufe des Dienstag in Stuttgart ein und werden sich mit den Ministern von Württemberg, Baden und Hessen über Fragen des Finanzausgleiches und der Gestaltung der Finanzen von Reich, Ländern und Gemein den aussprechen. , Der bayerische Ministerpräsident Dr. Held hat den Reichskanzler Dr. Brüning zu einer eingehenden Aussprache über das Finanz- und Reformprogramm der Reichsregie rung aufgesucht. Der Reichspräsident empfing am Montag den deut schen Botschafter in Paris, Dr. von Hoesch, zum Vortrag. * An der Spitze der von der Tiroler Heimatwehr aufge- stellten Kandidatenliste des Heimatblocks steht einer Korre spondenzmeldung zufolge der Landesführer der Tiroler Hei matwehr Dr. Steidle. * Eine Gewerkschaftsorganisation, die acht Gewerkschafts oerbände umfaßt, und der Amsterdamer Internationale an gehört, wurde in Helsingfors gebildet. Der Generalsekretär der Internationale nahm an dem Gründungsakt teil. Die »e«e Regierungsmehrheit Der neue Reichstag hat sich nach fünftägiger Arbeits- periode in sonntäglicher Mitternachtsstunde vertagt. Die Verhandlungen im Plenum am Sonnabend, die mit dem Abschluß der Aussprache und den Abstimmungen ihren Ausklang fanden, waren reichlich bewegt. Es ging nicht nur leidenschaftlich, es ging mehrfach auch turbulent und nicht immer sachlich zu. Das Ergebnis war schließlich eine Mehr heit von 82 Stimmen für das Minderheitskabinett Brü ning, die in erster Linie durch die Sozialdemokra tie sichergestellt wurde. Diese Mehrheit reicht somit von der Sozialdemokratie bis zum Christlich-Sozialen Volks dienst bezw. bis zur Volkskonseroativen Gruppe. Es bleiben in Opposition, und zwar in schärfster Opposition, die Nationalsozialisten, Deutschnationalen und das Landvolk auf der Rechten und die Kommunisten auf der Linken. Gleichzeitig hat die gleiche Mehrheit die Vertagung des Reichstage sbis zum 3. Dezember beschlossen. In zwischen werden die Ausschüsse die von der Regierung aus zuarbeitenden Gesetzentwürfe zur Inkraftsetzung des Regie rungsprogramms durchzuarbeiten haben. Diese Gesetzes vorlagen sollen jetzt beschleunigt fertiggestellt werden. Wenn das bisher nicht in allen Fällen geschehen ist, dann erklärt sich das aus der abwartenden Haltung der Regierung, die die Ausgestaltung der Vorlagen entsprechend der ihr zur Verfügung stehenden Mehrheit vornehmen wird. Der Ver such, sich die Mehrheiten von Fall zu Fall zu suchen, dürfte nach dem Verlauf der zweitägigen Aussprache über das Regierungsprogramm als gescheitert anzusehen sein. Das geht u. a. aus der Tatsache hervor, daß die Re gierung sich von vornherein für eine Ausschußberatung der einzelnen Vorlagen ausgesprochen und den Antrag der So zialdemokratie, den Berliner Metallarbeiter schiedsspruch nicht für verbindlich zu erklären, ohne Widerspruch hingenommen hat. In parlamentarischen Kreisen erklärt man ziemlich übereinstimmend, daß diese Entwicklung der parlamentarischen Lage das Ergebnis der eingehenden Beratungen zwischen dem Kanzler Brüning und dem preußischen Ministerpräsideten Braun darstellt Die Regierung Brüning hat somit in ihrer jetzigen Zu sammensetzung bis auf weiteres freie Hand. Eine Zu rückziehung der Notverordnungen ist vom Reichstag nichtver, langt worden. Ob die neue Mehrheit von langer Dauer sein wird, wird in erster Linie davon abhängen, welche Gestal tung die einzelnen Vorlagen nunmehr in den Ausschüssen finden werden. Wenn man der sozialdemokratischen Presse glauben soll, wird die Sozialdemokratie alles ausbi^ 1, um diesen Gesetzentwürfen eine ihr zusagende Tendenz zu geben. Der „Vorwärts" läßt auch keinen Zweifel darüber, daß „die Arbeiterschaft zu der Regierung Brüning kein Ver- trauen" habe und daß sie „bei erster sich bietender Gelegen heit die Regierung Brüning aus dem Sattel heben würde", um sie durch eine bessere zu ersetzen. Die Reaierung Brü- ning wird also parlamentarisch zunächst bestenfalls bis zum Wiederzusammentritt des Reichstages regieren können. In der Presse ist verschiedentlich die Frage aufgeworfen worden, ob der Reichstag auf Grund seines Vertagungsbe schlusses tatsächlich ohne den Willen der Regierung nicht früher einberufen werden kann. Artikel 24 der , Reichsverfassung schreibt nämlich vor, daß der Reichstag in jedem Jahre am ersten Mittwoch des No- . vember zusammentritt und daß der Präsident des Reichs tages ihn früher einberufen muß, wenn es der Reichsprä sident oder mindestens ein Drittel der Reichstagsmitglieder verlangt. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung könnte also kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß der Reichstag auf Verlangen von einem Drittel der Reichstagsmitglieder früher einberufen werden muß. Die Regierung steht allerdings auf dem Standpunkt, daß der Reichstag durch seinen Vertagungs beschluß gemäß dem zweiten Absatz des erwähnten Artikels selbst die frühere Einberufung abgelehnt hat. Wenn es rich- tig wäre, daß trotz dieses Beschlusses auf Vertagung bis zum 3. Dezember ein Drittel der Abgeordneten eine frühere Einberufung des Reichstages erzwingen könnte, dann müßte sich praktisch die Lage ergeben, daß der auf diesem Wege einberufene Reichstag sich durch Beschluß der Reichstags mehrheit sofort wieder vertagen könnte. Nach Auffassung in Regierungskreisen kann der Artikel 24 der Verfassung nur so ausgelegt werden, daß, wenn nicht durch einen srüheren Zusammentritt des Reichstages, wie es bei dem jetzigen der Fall war, diese Verfassungsbestimmung bereits erfüllt wor den ist, der Reichstag am ersten Novembermittwoch jeden Jahres zusammentreten muß. Der am Sonntag vertagte Reichstag hat auch bereits einen Teil der Aufgaben in An griff genommen, die dem Reichstag mit seinem Zusammen tritt im Herbst regelmäßig.zufallen, nämlich die Einleitung der Etatberatungen. Das verabschiedete Regierungsvro- gramm enthält bereit« Einzelheiten über die Neuaufstellung des Etats für 1031/32; die Ausschüsse werden sich demgemäß mit entsprechenden Einzelvorlagen in allernächster Zeit zu befassen haben. Eine frühere Einberufung könnte somit nur in Frage kommen, wenn besondere Ereignisse das erforderlich machen. Das erscheint nach dem augenblicklichen Stand der Dinge nicht allzu wahrscheinlich, nachdem auch die Frage der V e r - trags- und Vounaplan-Revision insofern eine weitere Behandlung erfahren dürfte, als die entsprechenden Anträge dem Auswärtigen Ausschuß überwiesen wurden. Der Regierung Brüning ist eine weitere Frist von 6 Wochen gelassen worden, um sich darüber klar zu werden, in welcher Richtung sie ihre Aufgaben weiter verfolgen will. Eine klareRegierungsmehr.heithat das Ab st im mun gsergebnis nicht gebracht. Es hat lediglich die nicht ganz unwesentliche Tatsache bestätigt, daß die So zialdemokraten bemüht sind, sich wieder in die Reichsregie rung einzuschalten. Es hängt von den Parteien der bürger lichen Mitte ab, ob sie ihnen hierzu die Möglichkeit geben oder nicht. Auslands - Echo de; Regierungssieges In Frankreich Die französische Presse stellt einen Sieg der Regierung Brüning fest, wie er sich durch das Abstimmungsergebnis am Sonnabend gezeigt habe: sie glaubt jedoch noch nicht an einen endgültigen Erfolg. Nach dem „Temps" habe die Sozialdemokratische Partei unbestreitbar am mei sten zur Rettung des Kabinetts Brünings beigetragen. Aber es wäre ein Irrtum, daraus zu folgern, daß der Weg für den Kanzler nun frei sei. Wenn der Reichstag am 3. Dezem ber wieder zusammentreten wird, würde die parlamen tarische Schlacht unter den gleichen Bedingungen abermals anheben. „Jntransigeant" will eine Entspannung der Lage in Deutschland und außerhalb Deutschlands feststellen können. Die Große Koalition habe sich dank der entschlossenen Haltung des Regierungs chefs und dank auch dem Präsidenten von Hindenburg ge wissermaßen wieder gebildet. „Ouotidien" ist der An sicht: Wenn das Reich seinen innerpolitisch stark geschädigten Kredit wiederfinden wolle, müsse es Europa die Gewißheit geben, daß es den Wunsch hat und in der Lage ist, seine Ver pflichtungen einzuhalten. Jede Forderung auf Neuordnung der Dinge in der internationalen Politik könne nur Aussicht haben, zur Diskussion zugelassen zu werden, wenn sie in einer Periode der Ruhe von einer starken Regierung im Namen eines Volkes eingeleitet werde. „Echo deParis" fragt: Wird Brüning, der für 45 Tage aus seiner gefähr lichen Lage befreit ist, in einer unternehmungs lustigeren Außenpolitik das Mittel suchen, das seine Mehrheit zusammenkitten soll? Oder wird er, bevor er irgendeine diplomatische Initiative ergreift, die Anwendung seines Finanzprogramms abwarten? Die Klugheit gebietet, sich auf das schlimmste gefaßt zu machen und sich demgemäß darauf vorzubereiten. Das wirklich gefährliche Deutschland ist nicht im Lager der Kommunisten und Völkischen zu finden, sondern in der kühlabwägenden Regierung, die sich durchgesetzt hat. In England. Das Ergebnis der Reichstagsabstimmung wird in der englischen Presse als ein großer Erfolg der Regierung Brüning gewertet. Es wird der Ueberzeugung Ausdruck gegeben, daß die Regierung Brüning wohl Deutschland wie der besseren Zeiten entgegen führen werde. Unter der Ueberschrift „Atempause für Deutschland" führt „Daily Telegraph" in einem Leitartikel aus: Brünings Mini sterium hat bei seinem ersten kurzen Zusammentreffen mit dem vor fünf Wochen gewählten Reichstage einen unbe streitbaren Erfolg davongetragen. Die ernstere Probe wird kommen, wenn der Reichstag wieder zusam mentritt. Das Blatt fährt mit einem Rückblick auf die Ver gangenheit fort: Mit ungewöhnlicher Festigkeit ist die Re gierung Brüning den Versuchen von mehr als einer der Mehrheisparteien begegnet, „in altgewohnter Weise" der Regierung ihre Bedingungen zu diktieren. Vor allem aber ist es wichtig, daß der mächtige sozialdemokratische Block die Regierung in den kritischen Abstimmungen der letzten Woche unterstützte „Daily Chronicle" überschreibt die Meldung über die Abstimmung im Reichstag: „Deutsch lands Entscheidung zu Gunsten der Demokratie." „Daily Mail" erklärt in ihrem Berliner Bericht über „Demsch- lands Rettung", durch den Sieg des Kabinetts sei ein finan zielles Chaos verhütet worden. „ Morning Post" spricht von der „unerwartet großen Regierungsmehrheit" von 82 Stimmen und fährt fort: Die große Zahl von Abgeordneten, > die für die Regierung stimmten, ist bereits ein Beweis s des wachsenden Unwillens über die Nationalsozialisten, die i sich während der letzten beiden Tage im Reichstag in ihrer j wirklichen Gestalt gezeigt haben. Zn Amerika. „World" und „Times" drücken ihre Befriedigung über das Vertrauensvotum des Reichstages für die Regie rung Brüning aus, das, wie die Times sagt, alle Freunde Deutschlands in den Vereinigten Staaten, — und ihre Zahl sei groß —, mit Freude erfülle. „Herald Tribune" meint, der Sieg des Kanzlers im Reichstage vergrößere die Wahrscheinlichkeit, daß eine Revision des Poung-Planes auch weiterhin von Deutschland lediglich durch Methoden erstrebt i '.vde, die der Doung-Plan als zulässig oorsehe. Um Berlins neue Verfassung Berlin, 20. Oktober Der Preußische Landtag befaßte sich am Montag in erster Lesung mit dem Entwurf eines Selbstverwallungsgesehes für die Hauptstadt Berlin. Anstelle der bisher in Berlin bestehenden Magistratsver- fafsung setzt der Entwurf Äle Bürgermeistereioerfassung. Di« Stadtverordnetenversamlung mit ihren 225 Mitgliedern soll verschwinden und einer Stadt Vertretung mit 150 Mitgliedern Platz machen. Den Vorsitz in der Sticht- Vertretung soll der Oberbürgermeister führen, dessen Macht befugnisse durch das neue Gesetz allgemein erheolich erwei tert werden. Innenminister Dr. Waenlig wies in einer längeren Rods darauf hin, daß der neu« Entwurf den Gedanken der Selbst verwaltung wahre und nichts, wie vielfach behauptet wurde, von Präfektur oder Diktatur bringe. Der Entwurf solle ver hindern, daß sich in Zukunft wiederhole, was in der jüngsten Vergangenheit eingetreten sei, daß nämlich eine Störung des geordneten Ganges der Verwaltung oder ein Versagen der verantwortlichen Selbstverwaltungsstellen dazu führe, daß der Staat in einer Weise eingreifen muß, die ihm «ine Art Mitverwaltung zumute. Die Aufsicht des Staates soll sich auf das beschränken, was auch anderen Städten gegenüber Aufgabe der Staatsaufsicht sei. Hinsichtlich der Vorkommnisse in der Berliner Verwaltung sei zu sagen, daß, wenn man . auch den Einzelfall auf die Unzulänglichkeit oder Unzuver lässigkeit einzelner Personen zurückzuführen möge, im gan zen gesehen doch das System selbst, die Organisation di« Schuld daran trage, daß solche Fälle in solcher Zahl sich hätten ereignen können. Für sehr bedauerlich halte er, der Minister, es aber. Laß di« Berliner städtischen Organe die Reform ablehnen. Im einzelnen erklärte der Minister, daß der Entwurf grund sätzlich die Einteilung in Bezirke beibehalte. Nach der An sicht der Staatsregierung soll« nur das zentral verwaltet werden, was unbedingt einheitlich verwaltet werden müsse. Alles andere solle grundsätzlich den Bezirken zur eigenen Verwaltung übertragen werden. Das Zweikammersystem bezeichnete der Minister als überlebt. Die Staatsregierung sei zu dem Ergebnis gekom men, daß die Bürgermeistereiverfassung alles in allem den Vorzug vor der Magistratsoerfassung verdiene. Die Regie rung halte es daher für notwendig, die bisherige Magi stratsoerfassung in Berlin zu beseitigen. Die Vorlage wurde dem Gemeindeausschuß überwiesen, der aber, nach dem angenommenen volkspar- teilichen Antrag, seine Beratungen erst beginnen wird, wenn das angeforderte Gutachten des Berliner Magistrats vor liegt. Bo« gestern bis heute Internationale Krankenkassentagung. Die Internationale Zentralstelle der Verbände der Krankenkassen und Hilfsvereine, die im Deutschen Hygiene museum in Dresden iyre vierte Tagung abhält, wurde am Sonntag in Anwesenheit des sächsischen Innenministers Richter sowie Ministerialdirektors Dr. Grieser als Vertreter der Reichsregierung und von Vertretern von 18 Staaten eröffnet. Ministerialdirektor Dr. Grieser begrüßte die Ta gung im Namen der Reichsregierung und der Internatio nalen Gesellschaft für Sozialen Fortschritt. Trotz eines klei nen Kreises von Gegnern würde der Wert der Sozialver sicherung von den deutschen Arbeitgeberverbänden aner kannt. Daß die Sozialversicherung mißbraucht werde, sek zuzugeben. Man werde jedoch die Mißstände mit allen ge eigneten Mitteln bekämpfen. Der Redner überbrachte noch die besten Wünsche des Reichsarbeitsminister Stegerwald. Deutsches Landvolk und Regierung Brüning. Die Reichstagsfraktion Deutsches Landvolk (Christlich- Nationale Bauern- und Landvolkpartei) veröffentlicht «ine Erklärung, in der es heißt, die Fraktion sehe infolge der ver stärkten Verbindung des Kabinetts Brüning mit der sozial demokratischen Partei die Unmöglichkeit der Lösung der außenpolitischen und wirtschaftspolitischen Aufgaben im Sinne der Landvolkauffassung. Die Landoolkpartei bringt daher ihre Forderung nach einer grundsätzlichen Umbildung des Kabinetts zum Ausdruck. Rücktritt des Ministers Dr. Franzen gefordert. Die sozialdemokratische Fraktion des braunschweigischen Landtages hat die sofortige Einberufung des Landtages ver langt und eine große Anfrage zu der Angelegenheit Dr. Franzen eingebracht. Die Anfrage gipfelt in folgenden Punkten: 1. Ist Minister Dr. Franzen bereit, sein Amt niederzulegen oder sich wenigstens bis zur Entscheidung über das Strafverfahren aller Dienstgeschäfte zu enthalten: 2. welche Folgerungen gedenkt das Staatsministerium aus dem Verhalten des Ministers Dr. Franzen zu ziehen? politische Schlägerei in Frankfurt am Main. In einem von Nationalsozialisten besuchten Lokal in der Niddastraße kam es nachts zu einer schweren Schlägerei zwischen Mitgliedern des kommunistischen antifaschistischen Kampfbundes und Nationalsozialisten, in deren Verlauf ein jetzt dem antifaschistischen Kampfbund angehörender Arbei ter mit einem Bierglas einen Schlag gegen den Hinterkopf erhielt, an dessen Folgen er kurz nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus verstarb. Mehrere Personen wurden ver- baitet.