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ZUR EINFÜHRUNG Joseph Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten" ist das volkstümlichste Werk des großen Komponisten und gleichzeitig eines der volkstümlichsten Werke der musikalischen Weltliteratur überhaupt. Zusammen mit dem Oratorium „Die Schöpfung" bildet es eine Schaffenseinheit; beide Oratorien entstanden, das Lebenswerk des reifen Meisters krönend, nachdem Haydn in England durch die dort sehr entwickelte Chorpflege und die lebendigen Traditionen der Händel- Oratorien starke Anregungen zur Beschäftigung mit dieser Gattung empfangen hatte. Als „Die Schöpfung" zu einem großen Erfolg geworden war, entschloß sich Haydn zur Komposition des Oratoriums „Die Jahreszeiten", das zwischen 1798 und 1801 geschrieben und am 24. April 1801, fast auf den Tag genau drei Jahre nach der „Schöpfung" und ebenfalls mit „allgemeinem Enthusiasmus" aufgenommen, in Wien uraufgeführt wurde. Der Text beider Werke stammte von Gottfried van Swieten, einer für die Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr bedeutsamen Persönlichkeit. Anfangs als Diplomat, als Gesandter in verschiedenen europäischen Hauptstädten, später als Hof bibliothekar in Wien wirkend, stand Swieten u. a. auch mit C. Ph. E. Bach, Mozart und Beethoven in engen Beziehungen. Als Vorlage für „Die Jahreszei ten" diente ihm das Lehrgedicht „The Seasons" des Engländers James Thomson, das er indessen in entscheidender Weise veränderte und in das er zwei volks tümliche Liedtexte von Ch. F. Weiße („Ein Mädchen, das auf Ehre hielt") und von G. A. Bürger („Spinnerlied") einfügte. Swietens in der Folge wegen seiner „Unzulänglichkeit, Trockenheit und Lehrhaftigkeit" vielgeschmähter und ge tadelter Text, über den auch von Haydn selbst einige ungünstige Äußerungen bekannt sind, ist auf alle Fälle charakteristisch für die Zeit seiner Entstehung, wie denn auch Swietens und Haydns philosophische und musikästhetische Anschauungen im Grunde doch recht gut miteinander harmonierten. „Beide vertraten die Weltauffassung der Aufklärungsepoche, huldigten den Ideen Rousseaus, der mit seinem Rufe .zurück zur Natur 1 ein Wortführer des der Revolution entgegendrängenden Bürgertums gewesen war. Die Natur, ihr dauerndes Wachsen und Gedeihen ist ihnen Symbol für das Gesunde, Auf wärtsstrebende der Menschheitsentwicklung" (H. Seeger). In einer losen An einanderreihung von Szenen, ohne festgefügte Handlung, werden im Text der „Jahreszeiten" die Menschen in ihren einzelnen, sich aus dem naturhaften Ablauf des Jahres ergebenden Erlebnissen und Tätigkeiten geschildert, wobei drei Personen (der Pächter Simon, seine Tochter Hanne und der junge Bauer Lukas) Träger der Geschehnisse sind und der Chor als Landleute und Jäger in verschiedene Szenen einbezogen wird. Rezitative, Arien, Duette, Terzette und Chöre wechseln einander in bunter Folge ab. Obwohl Haydn von der Komposition einmal bekannte: „Die Jahreszeiten haben mir den Rest gege ben, ich hätte sie nicht schreiben sollen; ganze Tage habe ich mich mit einer Stelle plagen müssen", und der fast 70jähtige der Anstrengung, die ihm diese Komposition kostete, seine seit dieser Zeit zunehmende Schwäche zuschrieb, merkt man das dem Werk in keiner Weise an. Noch heute erfreut seine volks tümliche, melodienreiche und aufs feinste durchgearbeitete Musik, die wahrhaft keiner „Deutung" bedarf, gerade durch ihre Unmittelbarkeit und F r ;sche, ver mag sie uns in ihrer Innigkeit und Herzlichkeit im Innersten zu berühren. U. H,