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ZUR EINFÜHRUNG Eine der profiliertesten Persönlichkeiten der internationalen Gegenwartsmusik ist der Schweizer Frank Martin. Der 1890 in Genf Geborene betrieb nach dem Abitur erst zwei Jahre lang naturwissenschaftliche und mathematische Stu dien, ehe er sich ganz der Musik zuwandte und Schüler des Genfer Komponisten Joseph Lauber wurde. 21 jährig trat Martin erstmalig mit einem Werk an die Öffentlichkeit. In der Folge wirkte er als Pianist, Cembalist und Kompositions lehrer u. a. in Zürich, Rom, Paris und hauptsächlich in Genf; von 1950 bis 1957 war er als Professor der Kompositionsklassen an der Musikhochschule Köln tätig. 1947 wurde er mit dem Kompositionspreis der Schweiz ausgezeichnet und zwei Jahre später von der Universität seiner Heimatstadt Genf zum Ehrendoktor ernannt. Der Komponist, heute neben Willy Burkhard bedeutendster Repräsen tant der zeitgenössischen Schweizer Musik, fand erst verhältnismäßig spät — nach zahlreichen stilistischen Wandlungen - zu seinem ganz persönlichen, un verwechselbaren musikalischen Stil, der Elemente der (völlig undogmatisch und frei angewendeten) Zwölftontechnik mit denen des französischen Impressionis mus verbindet und sich durch „intensive Ausdruckskraft und konstruktive Klar heit, durch kraftvolle Rhythmik und harmonisch-klanglichen Farbreichtum" (M. Gräter) auszeichnet. Zu den wichtigsten und bekanntesten Werken Martins, der auch schon gemessen an der Zahl der Aufführungen seiner Kompositionen zu den international beliebtesten und wertgeschätztesten Komponisten der Gegenwartsmusik gehört, zählen neben zahlreichen weiteren Kammermusik-, Orchester- und Vokalwerken die Petite Symphonie concertante für Harfe, Cem balo, Klavier und zwei Streichorchester (1945), das Konzert für sieben Bläser, Pauken, Schlagzeug und Streichorchester (1949), das Violinkonzert (1951), das Cembalokonzert (1952), das „Tristan"-Oratorium „Le vin herbe" (Der Zauber trank; 1941), das Oratorium „Et in terra pax" (1944), die Passion „Golgatha" (1948), das Oratorium „Le mystere de la nativite" (Mysterium von der Geburt des Herrn; 1959), die „Weise von Leben und Tod des Cornetts Christoph Rilke" für Alt und Orchester (1943), die Oper „Der Sturm" (nach Shakespeare; 1955) und Balladen für Klavier, Violoncello, Flöte, Posaune mit Orchester- bzw. Klavierbegleitung. Die Passacaglia, die ursprünglich als Orgelwerk komponiert wurde, widmete Martin dem Organisten der Berner Kathedrale, Kurt Wolfgang Senn; sie wurde im Februar 1944 vollendet. Acht Jahre später (1952) entstand für das Stuttgarter Kammerorchester und dessen Leiter Karl Münchinger die heute zur Aufführung gelangende Fassung des Stückes für Streichorchester, die vom Komponisten selbst der Orgelfassung nun sogar vorgezogen wird. Das Werk ist in der tradi tionellen Passacaglia-Form aufgebaut: über einem sich ständig wiederholen den, im Baß erscheinenden Thema im langsamen Dreiertakt wird in den ande ren Stimmen eine Kette von Variationen errichtet, das Thema wird in den Oberstimmen mannigfaltig verändert und umspielt, wobei hier bald kleine Imitationen, bald vielschichtige, sich in Parallelen weiterschiebende Akkorde auftreten. Obschon Martin auch in dieser Komposition einige Methoden der Zwölftontechnik benutzte (so erscheinen im Mittelteil die Töne des Themas über einem Orgelpunkt in der Art dieser Technik über mehrere Stimmen verteilt), wurde die Zwölftontechnik doch wieder ganz undogmatisch verwendet; auch ist das Thema selbst kein Zwölftonthema. Kennzeichnend für das Werk ist es, daß trotz der kunstvollen Form und des dadurch bedingten stark konstruktiven Ele mentes das Musikalische in dieser Passacaglia immer im Vordergrund steht, daß die Variationen zu einer wirklichen musikalischen Einheit zusammenge schlossen werden. Andre J o I i v e t, 1905 in Paris geboren, trat zunächst als Vertreter der 1936 gebildeten französischen Gruppe von Komponisten „La Jeune France" (Das junge Frankreich) hervor, die wohl bis zum zweiten Weltkrieg die aktivste und ernsthafteste Komponistengruppe in Frankreich darstellte und zu deren Mit gliedern u. a. auch der ihm befreundete Olivier Messiaen zählte. Ursprünglich als Lehrer tätig — erst nach 1945 erlaubte ihm ein Stipendium, diesen Beruf aufzugeben und sich ganz der Musik zu widmen — nahm Jolivet von 1928 bis 1933 Unterricht in Harmonielehre, Kontrapunkt und Formenlehre bei Paul Le Flem und war seit 1930 außerdem Schüler von Edgar Varese, der ihn vor allem mit den neuen musikalischen Techniken der Zeit bekanntmachte. So zei gen auch Jolivets Werke aus diesem Schaffensabschnitt — in ihren Ergebnissen oft problematisch — alle das Experimentieren, das intensive Suchen nach neuen Themen, neuen technischen Mitteln, neuen musikalischen Ausdrucksweisen und brachten ihm bald den Ruf eines offenkundigen Vertreters der Avantgarde ein. Besonders zahlreiche neue Kompositionen (Ballette, Film-, Bühnen- und Rund funkmusiken, sinfonische und kammermusikalische Werke, acht Konzerte u. a. für Flöte, Harfe und Klavier, Chöre und ein Oratorium) schuf der Komponist noch 1945, als er in einem zweiten Schaffensabschnitt zu der bedeutsamen Erkenntnis gelangt war, daß „die wahre Musik diejenige ist, die jeder summen oder spielen kann, indem er glaubt, er habe sie selbst gemacht, oder in der er, wenn er sie härt, den Ausdruck seines eigensten, ganz einfach menschlichen Gefühls wiederfindet". Jolivet, der auch lange Jahre als musikalischer Leiter der Comedie Francaise wirkte und in zahlreichen europäischen Ländern seine Werke dirigierte oder über seine Musik sprach, läßt sich in seinem eigenwilli gen, durch eine besondere Reichhaltigkeit der Ausdrucksmittel gekennzeichne ten Schaffen keiner bestimmten Richtung oder Schule zuordnen. Von seinen Werken, in denen sich häufig eine starke Vorliebe für rauschende Klangfarben und eruptive dynamische Ballungen, teilweise auch für Anregungen aus der Musik exotischer Völker bemerkbar macht, sollen hier noch der sinfonische Satz „Psyche", die „Cinq Danses Rituelles" für Orchester, die Ballette „Cingnol et Pandora" und „L'lnconnu und die Oper „Dolores" namentlich genannt werden, über sein 1948 entstandenes, virtuoses Concertino für Trompete, Streichorchester und Klavier, dessen Grundhaltung von spielerischer Heiterkeit bestimmt wird, schrieb der Komponist folgendes: „Im Concertino werden die verschiedensten Möglichkeiten der Trompete verwertet, vom traditionellen .dreifachen Zungen schlag' bis zu den technischen Neuerungen der Jazz-Trompeter, unter Betonung der Ausdrucksqualitäten, die das Instrument zu vermitteln vermag. Das Ganze ist ein variiertes Thema, in dessen Abwandlungen alle Ausdrucksbereiche der Trompete erschlossen werden, das Heroische, Spöttische, Martialische, das Un gestüme und Lyrische. Das Werk schließt mit einer feurigen Variation, die vom Solisten außergewöhnliche Virtuosität verlangt." Francis Po u lene, der zu den führenden zeitgenössischen Komponisten Frankreichs gehörte, wurde mit 15 Jahren Lieblingsschüler des spanischen Pia nisten Ricardo Vines, der ihn mit Eric Satie und Georges Auric bekanntmachte,