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gerliche Musikkultur. Einhergehend mit einer inneren Umorientierung schufen auf diese Weise Meister wie Bach, Telemann, Graup- ner und Fasch Werke von künstlerischem Eigenwert und führten damit die Orchester suite zu ihrer eigentlichen Hochblüte. Doch nach 1740 konnte das bei aller Variabilität im einzelnen starre Schema der dreiteiligen Ouver türe und die gesetzmäßig tonartliche Gleich heit aller oder doch fast aller Tanzsätze den Siegeszug der Sinfonie nicht mehr aufhalten. Ausläufer finden sich noch in den langsamen Einleitungen mancher Haydn-Sinfonien, des Vorspiels zu Mozarts „Zauberflöte" und Beet hovens „ Egmont"-Ouvertüre. Kaum zu über schauen sind die Auswirkungen der Ouvertü- ren-Form auf die Musik in der Zeit ihrer Blüte (1680—1740). Vergleichbar erscheint das bei Johann Sebastian Bach, dessen frühzeitiges Bestreben, sich „im französischen Geschmack fest zu setzen" auch außerhalb der Komposition von Orchestersuiten vielfältig Früchte getragen hat. Von der Gattung selbst sind uns vier Werke aus seiner Feder überlie fert. Ihre Entstehung wird in den Schaffens jahren Bachs als Köthener Hofkapellmeister (1717—1723) angenommen. Die Suite N r^L D-Dur BWV 1 069 muß ursprünglich mit Streichern und Holzbläsern besetzt gewe sen sein, ehe Bach — offenbar im Zusammen hang mit der Umgestaltung der Ouvertüre zum Eingangschor der Weihnachtskantate „Unser Mund sei voll Lachens" BWV 110 — den mei sten Sätzen Trompeten und Pauken beigab. In der dreiteiligen Ouvertüre werden die feier lich ausschreitenden Eckteile durch eine nach Gigue-Art fröhlich dahineilende Fuge abge löst. Auffallend ist hier wie in allen übrigen Sätzen das Wechselspiel zwischen Holzbläsern und Streichern. Besonders ausgeprägt erscheint es in der Bourree I mit ihrem harmonischen Oboensatz und den eingeworfenen Fanfaren fortschleppenden Kranken werden zu Symbo len für das gefahr- und leidensvolle Men schenleben, das Erlösungshoffnung und Todes sehnsucht erweckt. Der bildkräftige und stimmungsvolle Text hat offensichtlich Bachs künstlerische Phantasie in besonderem Maße beflügelt. Wenige seiner Werke sind von so gleichbleibender Ausdrucks und Stimmungskraft. Das ist umso bemerkens werter, als sich die aufgewendeten Klangmittel durchaus im Rahmen alltäglicher Besetzung halten: Streicher und Oboen stellen Bachs üb liches Kantateninstrumentarium dar. Zwei Arien, von je einem Rezitativ gefolgt und durch einen schlichten Choralsatz abgeschlos sen, bilden den Formenbestand des kleinen Meisterwerks. Die ausgedehnte Eingangsarie in g-Moll prägt das Bild des „Kreuzstabs" in einer melodisch-deklamatorischen Gestalt, wie sie uns von den Passionen her geläufig ist. Zu sammen mit dem Bild des mühevollen „Tra gens" (absteigende Achtelgruppe) beherrscht es die Thematik des Satzes. Lange Ausdrucks- melismen („tragen" und „Plagen"), mit küh nen chromatischen Rückungen harmonisch un termalt, erzeugen eine schmerzlich bewegte Grundstimmung, die von Bach aber immer wieder durch hoffnungsfrohe Durwendungen aufgelichtet wird. Das folgende Rezitativ ist durch seine bild haften Züge berühmt geworden. Die wogenden Sechzehntelfiguren des den Gesang unterma lenden Violoncells sind das musikalische Sym bol für die Textworte „Schiffahrt" und „Wel len" und werden deshalb folgerichtig genau dort von festgefügten Grundbässen abgelöst, wo von dem Heraustreten aufs sichere Land berichtet wird. Als reine Dacapoform gibt sich die folgende B-Dur-Arie. Fast unwahrscheinlich mutet es uns heute an, daß der jubelnde Zwiegesang von Oboe und Baßstimme zu den von Todessehn sucht erfüllten Textworten geschaffen wurde. Dem nächsten Satz hat Bach einen sehr ori ginellen Abschluß gegeben, indem er an das von Streichern feierlich begleitete Rezitativ un vermittelt den Abgesang der ersten Arie („Da leg ich den Kummer") anfügt und damit so wohl die Gedankenwelt des Kantatenbeginns nochmals aufklingen läßt als auch die solisti- sche Satzfolge formal abrundet. Der schlicht vierstimmige c-Moll-Choral „Komm, o Tod, du Schlafes Bruder" setzt den Schlußpunkt. motiven der Streicher sowie dem Rollentausch zwischen Streichern und Bläsern im zweiten Teil dieses Satzes. Merkwürdige Kontraste er geben sich in der Bourree II mit ihrem klagen den Oboensatz, der ruhelos wandernden Fa gottstimme und den stereotypen unwirschen Einwürfen der Streicher. Gegen das „hüpfende Wesen" der Gavotte stellt sich der hymnische Aufschwung des Bläsersatzes. Ruhepunkte er geben sich im sorgfältig abschattierten vier stimmigen Satz des Menuet I und in seinem Schwestersatz, der in die tiefen Klangregio nen der Streicher ausweicht. Wirkungsvoll hebt sich davon die Rejouissance (Belustigung, ^^udenfest) ab. Hör-Vergnügen bereiten uner- ^Brtete Wendungen, widerborstige Rhythmen und bewußt hervorgerufene musikalische Un fälle (der häufig hinter der Oberstimme gro tesk einherhinkende Baß!) Hier zeigt sich nicht nur Bachs Sinn für Humor, sondern kün digen sich die Scherzo-Sätze späterer Jahr zehnte an. Bach hatte sich also im „französi schen Geschmack" nicht nur „festgesetzt", er hat ihn auf deutsche Weise nach Kräften wei terentwickelt. Auch als Bach in Leipzig für seine sonntägli chen Kirchenmusiken den Thomanerchor zur Verfügung hatte, schrieb er eine Anzahl von Solokantaten, d. h. Kantaten, die nur Rezita- tive und Arien reihen und allenfalls für den üblichen Schlußchoral den Chorklang benöti gen. Arbeitsökonomische Gesichtspunkte mö gen hierbei ebenso eine Rolle gespielt haben wie die zufällige Verfügbarkeit geeigneter Ge sangssolisten. Natürlich hat auch der Charak ter der jeweils vorliegenden Texte die Wahl der Klangmittel weitgehend bestimmt. Für die Solopartien fand Bach in den Kreisen musikliebender Studenten willige Helfer. Für die Kantate „Ich will den euzstab gerne tragen" BWV muß Bach ebenso wie für die in zeitlicher Nachbarschaft um die Jahreswende 1726/1727 entstandene Kantate „Ich habe genug" BWV 82 einen ausgezeichneten Bassisten an der Hand gehabt haben, denn die anspruchs vollen Partien erfordern in Technik und Aus druck das Können eines gereiften Künstlers. Ihre kirchliche Bestimmung weist die „Kreuz stabkantate" dem 19. Sonntag nach Trinitatis zu. An das Evangelium dieses Sonntags, das von Jesu Seeüberfahrt und Heilung des Gicht brüchigen berichtet, knüpft der uns unbekannte Dichter des Librettos an. Die Bilder von der gefahrvollen Schiffahrt mit glücklicher Landung und von dem stützenden „Kreuzstab" des sich