Volltext Seite (XML)
ll Die 100-Dokarnote w 12. Fortsetzung. Nachdruck verboten. Als Horst auf seinem Zimmer im Grand Hotel an langte, warf er sich in den Kleidern auf das Bett. Aber es war ihm unmöglich, ein Auge zu schließen, auch nur einen Moment der Ruhe und Ueberlegung zu finden. Seine Brieftasche war leer, leer bis auf die zweihundert Frank. Und seine Hilfsquellen waren erschöpft, das war das ein zige, was er in dieser Stunde zu denken vermochte. So weit hatten ihn also sein grenzenloser Leichtsinn, seine Spielwut, sein Pochen auf das Glück, von dem er sich nun einmal verwöhnt und umschmeichelt glaubte, wieder ge führt. Aber nicht allein diese seine Eigenschaften, die er schlechterdings nicht verleugnen konnte, waren daran schuld. Es war unglaublich. Vor drei Stunden hatte er noch 83000 Frank in der Tasche! „Alice — Violet", fuhr es wieder und wieder durch seinen Kopf. Wie an einen Rettungsanker klammerte sich seine verzweifelte Hoffnung eben an die Namen der beiden jungen Mädchen, die in dieser letzten Episode seines reich bewegten Lebens seine Wege gekreuzt hatten. Was wollte er mit denen, was konnte er mit denen noch wollen? Er war gewiß, Alice liebte ihn noch, aber der alte Feldberger hatte ihm in so schmählicher Weise die Tür gewiesen, daß sein Stolz es unmöglich zulassen konnte, diesem Manne auch nur ein einziges Mal in diesem Leben ein gutes Wort zu geben. Und Violet? Was würde dieser Mister Wilkins, der hartgesottene Millionenmensch, der Beherrscher des Weizen marktes in Wisconsin, der für ihn in diesem Augenblick unfaßbare Werte an der Neuyorker Börse rollen ließ, Wohl sagen, wenn er es erfuhr, daß er in dem flotten Gesell schafter, dem Netter seiner Tochter, dem Grafen, einen Bankrotteur vor sich habe, einen Menschen, der nicht mehr einen roten Heller sein eigen nannte, und der ein Ver mögen, das ihm kaum gehörte, in wenigen Stunden über den grünen Tisch hatte rollen lassen? Nicht auszudenken, einfach nicht zu überleben war die Stunde, in der er, selbst wenn er Violets sicher war, gezwungen sein würde, Mister Wilkins reinen Wein einzuschenken l Nein, da war es schon bester, er machte Schluß, ehe er die Schande erlebte, daß ihm der Portier des Grand Hotels, der in dieser Stunde noch devot dienernde Monsieur Flunschli, die Tür wies und ihn wegen Zechprellerei der Polizei zur Anzeige brachte. Und Alice? Wenn er sich in diesem Augenblick richtig erinnerte, dann hatte er ihr vor wenigen Stunden im Kasino ein Versprechen gegeben! Sein Ehrenwort, das ihm doch stets noch heilig gewesen, hatte er ihr gegenüber verpfändet, seinen Vorsatz, von dem er ihr eine Andeutung gemacht hatte, nicht zur Ausführung zu bringen, wenn er Glück hatte, wenn seine Farbe noch einmal herauskam > Und auf Noir war die Kugel gefallen. Er legte den Revolver vor sich aus den Schreibtisch. Wie er ihn so betrachtete, kam plötzlich so etwas wie eine er- havene Ruhe über ihn Nun griff er nach einem der Brief bogen des Grano Hotels, die hier in einem eleganten Be hälter aus dem Tische standen. Richtig, Nachricht sollten die in der Heimat erhallen, sie sollten sich nicht der Illusion hingeben, daß er nun in Amerika sein Brot suche, nicht der Hoffnung leben, daß er eines schönen Tages als gemachter Mann wieder in Deutschland auftauchen werde! Emmerich sollte wissen, wohin er ihn mit der Hundertdollarnote ge trieben hatte! Kritzelnd fuhr Horsts Feder über das Papier. In zwei knappen Minuten war er mit seinem Schreiben fertig. Es enthielt nur die Tatsache, weiter nichts, keine Anklage und keine Entschuldigung, keine Bitte um Verzeihung und keine Beschönigung. So war es gm. Er steckte den Bogen in einen Umschlag und siegelte diesen mit dem Ringe mit der Grafenkrone. Es war der Ring, der auf das kleine Millionengänschen aus Amerika einen so tiefen Eindruck gemacht hatte, dachte er in diesem Augenblick. Gemessen, wieder ganz Herr seines Willens und seiner Sinne, erhob er sich jetzt und drückte aus die neben der Tür angebrachte elektrische Klingel. Es kam ihm vor, als Halle deren schriller Ton wie ein Signal durch das ganze Grand Hotel. Noch nie in seinem Leben hatte er einen Brief selbst zur Post getragen. So sollte denn Wilhelm auch diesen Brief, seinen letzten, aufgeben oder, wenn es schon zu spät war, an den Bahnhof bringen. Nach zwei Minuten er schien der Kellner und fragte nach Horsts Wünschen. „Schicken Sie meinen Diener!" „Schön, Herr Graf! Der Diener des Herrn Grafen itzt eben, so viel ich weiß, in dem Dienerschaftssaal zu Abend." „Dann rufen Sie ihn sofort!" ^Jawohl!" „Halt! Wissen Sie, ob heute abend noch ein Schnellzug tu der Richtung nach Genua fährt?" „Wünschen der Herr Gras abzureisen?" „Sie haben keine Fragen an mich zu richten." Der Bedienstete schwieg. Er blätterte, infolge dieser Dierechtweisung ein wenig nervös geworden, in dem Fahr- HR«, den er der Tasche seines Frackes entnommen hatte. ^ver letzte Zug nach Genua verläßt den Bahnhof von Mente Carlo um zehn Uhr dreißig." „Wieviel Uhr haben Sie jetzt?" „Zehn Uhr zehn, Herr Graf." „Dann kann WUHelm ihn gerade noch erreichen! Er OM diesen Brief sofort selbst an den Bahnhof bringen und Mosch reiben taffen. Den Schein finde ich nach meiner Rück- iHtzr Per aus dem Schreibtisch. Verstanden?" ^Wwhl!" Der Kellner nahm den Brief aus den Händen des Grafen entgegen. Da fiel es Horst auf, daß besten Hand zitterte, und er sah, wie plötzlich Leichenbltisse in das Gesicht des immer »och devot Lächelnden getreten war. „Was ist Ihnen?" Der gab keine Antwort, aber sein Blick starrte auf den Tisch, wo neben der Schreibmappe die Waffe lag. „Ach so", sagte Horst leichthin, und steckte den Revolver wieder in seine Tasche. „Er ist mir nur beim Auspacken gerade unter die Finger gekommen." Ohne ein Wort der Erwiderung entfernte sich der Kellner. Horst aber, ohne sich lange zu besinnen — als ob ihn die Furien selber aus seinem Zimmer trieben —, nahm Paletot, Hut und Stock und eilte die Treppe des Grand Hotels hinunter. Er bemerkte es gar nicht, daß sich die Tür eines Zim mers seines Stockwerks leise öffnete, daß ihm jemand aus großen, braunen Augen nachschaute. Und seinen mit fast brechender Stimme leise gerufenen Namen: „Horst, Horst!" hörte er nicht. Er mußte hinaus, in eine andere Um gebung, ins Freie, zu Menschen, die lachten und tollten und sangen, sich den Mut zu holen, der ihn eben wieder verlassen wollte, sich den Mut der Verzweiflung, den er hier nicht finden konnte, wenn es denn nötig war, an zutrinken, und so den Entschluß, den er gefaßt hatte, zur Ausführung zu bringen! , Eben war Horst auf die Straße getreten, als die Klingel in dem Stockwerk, wo er wohnte, wieder ertönte. Sie rief Luise, das Stubenmädchen, in das Zimmer Alices. Als Luise der jungen Dame ansichtig ward, erschrak sie. Fräulein Feldberger schien sich in einem Zustand höchster Erregung zu befinden. „Sagen Sie, Luise", vernahm sie Alices Stimme. „Sie besorgen doch dieses ganze Stockwerk?" „Gewiß, gnädiges Fräulein!" „Auch die Zimmer des Grafen von Recklingen?" .Aber ganz gewiß!" „Und " - s „Das gnädige Fräulein meinen?" - Alice zögerte. Sie wich aus. „Ich meinte " „Ich weiß in der Tat nicht, was das gnädige Fräulein meinen", wiederholte Luise noch einmal. „Haben Sie mit Wilhelm, dem Diener des Herrn Grafen, gesprochen, Luise?" „Jawohl, gnädiges Fräulein, er hat mit uns im Dienerschaftssaal zu Nacht gegessen. Aber das gnädige Fräulein sind ja ganz bleich!" „Ich habe solche surchtbare Angst, Luise!" „Soll ich die Frau Mutter des gnädigen Fräuleins be nachrichtigen?" „Nein, nein, Luise. Besorgen Sie mir nur eine Tafle schwarzen Kaffee, mir wird auf einmal ganz schwindlig." Luise trat an die Tür und klingelte dem Kellner. „Eine Tasse schwarzen Kaffee für daS gnädige Fräu lein", sagte sie, als dieser eintrat. Alice hatte sich ein wenig gefaßt. „Sie kommen aus dem Dienerschaftssaal, Kellner?" „Jawohl, gnädiges Fräulein!" „Haben Sie. dort den Diener des Herrn Grafen von Recklingen gesehen?" „Ja, der Diener des Herrn Grafen ist soeben heraus gekommen, sich anzuziehen, weil er noch einen Bries für seinen Herrn an den Bahnhof zu besorgen hat!" „Einen Brief?" Wie ein Schrei des Entsetzens war dieses Wort aus dem Munde Alices gekommen. „Rufen Sie mir den Diener, um Gottes willen, Kellner, ehe er diesen Brief besorgt", stammelte sie „Sogleich, gnädiges Fräulein!" Der Kellner stand im Begriff, sich zu entfernen. Alice hielt ihn zurück. „Sagen Sie, Kellner, haben Sie diesen Brief aus den Händen des Herrn Grasen entgegengenommen, da doch Wilhelm unten im Dienerschaftssaal gewesen ist?" „Jawohl, gnädiges Fräulein." „Und — und —", sie konnte nicht weiter, „und —" „Das gnädige Fräulein meinen?" „Ich meine", sagte sie endlich, „ob Ihnen an dem Herrn Grafen nichts aufgefallen ist, das einen Schluß auf den Inhalt dieses Briefes zulaflen könnte?" Der Kellner zögerte. „Nun?" „Mir ist ausgefallen, daß ein Revolver aus dem Schreibtisch des Herrn Grafen lag, und daß der Herr Graf die Waffe wieder zu sich gesteckt hat!" Kein Wort kam über Alices Lippen. Aber sie wankte, sie mußte sich an dem Pfosten der Tür halten, denn vas Zimmer drehte sich vor ihren Augen; sie fürchtete, um- zuslnken. „Suchen Sie den Diener deS Herrn Grafen im ganzen Hause, Kellner, und bringen Sie ihn zu mir!" „Der Diener ist noch nebenan in den Zimmern des Herrn Grafen!" „Dann holen Sie ihn sofortl" Der Kellner ging. Luise fragte, ob sie dem gnädigen Fräulein noch in irgendeiner Beziehung behilflich sein könnte. Aber Alice erwiderte kein Wort. Starren Blickes war ihr Auge auf die Tür gerichtet, durch die Wilhelm ein treten sollte. Endlich pochte es. Ueber Wilhelms gutmütiges Gesicht ging ein verständnisvolles Grinsen, als er der einstigen Braut seines gnädigen Herrn Grasen ansichtig wurde, der er in Berlin in der Tauentztenstraße vie Tür so oft ge öffnet batte Alice würdigte ihn keines Wortes und keines Blickes. Sie sah nur den Brief, den Wilhelm in seiner Hand hielt; eben hatte er sich fertig gemacht, um nach dem Bahnhof zu gehen und den Auftrag seines Grafen auszurichten. Und Wilhelm wußte nicht, wie ihm geschah. Ohne ein Wort zu sagen, hatte ihm Alice den Brief aus der Hand genommen. Endlich stammelte er: „Aber gnädiges Fräulein, was wird mein Herr Graf " „Beruhigen Sie sich, Wilhelm, ich nehme alles auf mich!" sagte sie. Sie nahm sich kaum Zeit, ihren Satz zu vollenden, denn schon riß sie mit nervöser Hast an dem Umschlag. Ihre Hände zitterten, so daß das Papier zu knittern begann. Sie stand unter der Glühbirne ihres Zimmers und las: Mein lieber Emmerich! Wenn Du diese Zeilen liest, bin ich nicht mehr. Ich ende hier in Monte, wie ich gelebt habe. In Amerika braucht man mich nicht zu suchen. Dies zur Notiz. Dein Horst." Ein unterdrücktes Schluchzen löste sich, nachdem sie viese Zeilen gelesen, aus der Brust Alices. Verzweifelt rannte sie ein paar Augenblicke im Zimmer aus und nieder, vanu warf sie sich, Wilhelm und Luise nicht weiter beachtend, aus das Sofa und weinte vor sich hin. „Soll ich die Frau Mutter des gnädigen Fräuleins be nachrichtigen?" fragte Luise noch einmal. „Um Gottes willen nicht, Luise, gehen Sie, gehen Sie alle beide und lassen Sie mich jetzt allein!" Luise entfernte sich stillschweigend. Wilhelm hatte das ihm entrissene Schreiben, das aus den Händen Alices auf den Booen des Zimmers geglitten war, an sich genommen. — Nun las er es selbst. „Mein Graf, mein guter Herr", schluchzte er jetzt zum Herzbrechen los, „mein Graf, mein Graf!" Ein wenig hatte sich Alice gefaßt. „Armer treuer Kerl, gute alte Seele!" sagte sie jetzt, und reichte Wilhelm in einer Auswallung ihres Gefühls die Hand. „Ich werde sorgen, daß ou unterkommst!- „Aber können wir beide denn da gar nichts tun. gnädiges Fräulein?" stammelte nun Wilhelm. „Was sollen wir tun, wir wissen ja nicht, wo er in seiner Verzweiflung hin ist, Wilhelm, ob er nicht am Ende " Sie wagte den Satz nicht zu vollenden. Ein leiser Schimmer der Hoffnung regte sich da wieder in ihrem Innern, daß Horst noch einmal zurückkommeu, daß er zaudern und warten, daß er doch nicht draußen auf der Straße —, daß er sich des ihr gegebenen Versprechens erinnern, daß er an sie denken und zur Vernunft kommen werde! Aber freilich, freilich, draußen führten die einsamen nächtlichen Straßen hinab an das Meer, an den Felsen entlang, dort konnte er sein Vorhaben aussühren, ver schwinden für immer, wenn er sich über dieses Meer von einem der steilen Felsen von Monaco beugte und so oie Waffe gegen sich selbst abdrückte! Dann stürzte sein Körper, von niemand in dieser nächt lichen Einöde beobachtet, in die furchtbare Tiefe, zerschell Ir an diesen Felsen, ward bis zur Unkenntlichkeit entstellt, wie der so manchen Selbstmörders, der nicht erkannt werden wollte und hier auf die gleiche Art und Weise geendet hatte. Sie wußte sich und Wilhelm keinen Trost unv- schluchzte wieder laut vor sich hin. Stunden vergingen und Horst kam noch immer nicht zurück. Eine unwiderstehliche Müdigkeit hatte Alice lang- sam befallen. Wilhelm hatte sich in die Zimmer des Grafen zurück- gezogen. Und sie lauschte und lauschte. Jedes Glockcn- signal, das nun das nächtlich still gewordene Grand Holet durchhallte, ließ sie emporfahren. Sobald das Tor unten ging, lief sie nach der Tür ihres Zimmers, steckte den Kopf hinaus und horchte, ob es nicht Horsts ihr so wohlbekannte Schritte seien, die jetzt die Treppen herauskamen. Aber enttäuscht hatte sie sich jedesmal wieder zurückgezogen. Es war vergeblich, er schien nicht mehr zurückzukommen. Namenlose Verzweiflung hatte sie erfaßt. Noch gestern, da sie sich darüber geärgert, daß er wieder unvorher gesehen und ganz zufällig ihre Wege gekreuzt, hätte sie es einfach nicht für möglich gehalten, daß sie fein Schicksal in solche Aufregung versetzen könne! Freilich, sein Schicksal, seine Reise nach Amerika und seine vielleicht trostlose Zu kunft doch wohl nicht! Aber die aus diesem schrecklichen Briese hervorgehende Gewißheit, daß er sich das Leben nehmen wollte, die Eifersucht aus Violet, die sie erst be lehrt hatte, daß sie ihn immer noch nicht vergessen, daß fie ihn noch liebte, die hatten es dennoch zustande gebrach. Jetzt glaubte sie in der Tat, am Ende ihrer Kräfte an gelangt zu sein. ES schien ihr, als sei ste außerstande, den kurzen Weg von der Chaiselongue, auf die ste sich wartend niedergelegt hatte, bis zu der Tür ihres Zimmers wieder und wieder zurückzulegen. Sie hatte sich entkleidet. Ihre Eltern, die sich auch längst auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten, waren wohl der Meinung, daß ste fest und gut schliefe. Aber ste lag tu dee seidenen Matinee, die ste für alle Fälle angelegt hatte, offenen Auges da und stierte, mit Tränen in den Blicke», nach dem Kamin, auf dessen Marmorplatte eine Uhr au- goldener Bronze stand. Die stellte eine fliehende Fortuna auf einer Wellkugel dar. Die Uhr schlug halb zwei. Alice fuhr empor. Eortsetznn» wlat.