Volltext Seite (XML)
II Die 100-DoLanwte W I s. Fortsetzung. Nachdruck verboten. Das Mahl war noch nicht zu Ende, als an dem Fenster- tisch, den die Feldbergers seit ihrem jetzt etwa vierwöchent lichen Hiersein inne hatten, eine kleine Sensation entstand. Ms die Kellner den Käse und die Früchte servierten, erhob sich Alice ganz unvermittelt. „Was ist dir, Alice?" forschte der alte Feldberger, der eben eine dicke Apfelsine mit seinen ungelenken Fingern recht unpraktisch zerlegte. „Ihr entschuldigt mich; ich bifle Sie um Verzeihung, Herr Professor", lautete Alices Antwort. „Das Thema, über das wir soeben sprachen, war ja ungeheuer inter essant; aber diese leidige Migräne! Ich kann es wirklich bei den vielen Menschen hier im Saal nicht mehr aus- halten! Ihr müßt schon erlauben, daß ich vorzeitig auf breche und mich ein wenig niederlege, bis diese geradezu scheußlichen Kopfschmerzen wieder einigermaßen vorüber sind." Feldberger brummte ein paar unverständliche Worte in den Bart. Seine Frau nahm das langstielige Lorgnon und äugte wie vorwurfsvoll nach dem Tische der amerika nischen Familie hinüber, in deren Gesellschaft sich Horst heute befand. Und Professor Kurz, seines Zeichens Zoo loge, in dem der Graf vor wenigen Minuten ganz richtig Alices neuesten Verehrer vermutet hatte, sagte in ein wenig schüchternem Tone: „Es ist doch hoffentlich nichts Ernstliches, was dem gnädigen Fräulein fehlt?" „Aber durchaus nicht, mein lieber Herr Professor, das geht wieder schnell vorüber; nur diese Hitze hier im Saal!" Mit diesen Worten ging Alice, nachdem sie dem Pro fessor die Hand gereicht hatte, nach vem Ausgang des Speisesaals. Sie konnte nicht umhin, einen Blick nach vem Tische zu werfen, an vem Horst eben wieder in eifrigem Gespräch mit Violet begriffen war. Als sie das Vestibül des Hotels erreicht hatte, war dann ihre mühsame Selbstbeherrschung freilich zu Ende. Mit Anstrengung gelang es ihr, den Lift zu erreichen; denn so etwas wie ein leichter Ohnmachtsanfall mochte wohl im Anzuge sein. Als sie ihr Zimmer betreten hatte, schloß sie ab. Sie ließ die Vorhänge herunter; denn die von dem Meere hereinflutende Fülle dieses köstlichen Wintersonnenlichts dünkte ihr in diesem Augenblick, wo sie ihr ganzes Leben grau in grau sah, unerträglich. Sie warf sich auf das Sosa, und weinte leise vor sich hin. Sie hatte geglaubt, er sei ausgelöscht in ihrem Innern, nachdem sie in Berlin Abschied voneinander genommen hatten, und schon diese erste Stunde eines unvermuteten Wiedersehens belehrte sie, daß das, was sie sich eingeredet hatte, keineswegs der Fall war. Ein Skandal in des Wortes eigentlichstem Sinne war ja überhaupt die ganze Affäre gewesen, ein Skandal, den sich alle ihre Freundinnen von Berlin in die Ohren ge tuschelt hatten! Und wer war daran schuld? Wenn sic sich offen und ehrlich fragte: sie mit ihren zwanzig Jährchen doch wohl am allerwenigsten! Die ganze Erziehung, die sic genossen, das gesellschaftliche Milieu, in vem man sie großgezogen, vie verdrehten Anschauungen, die man ihr gepredigt, die Mutter mit ihrem Ehrgeiz, der Vater mit dem ewigen Pochen aus seinen unerschöpflichen Geldbeutel, das alles trug wohl allein die Schuld! Allein? Nein, un gerecht vurfte, wollte, konnte sie nicht urteilen. - Wie alle ihre Freundinnen, hatte sie eine vornehme, höhere Töchterschule des Berliner Westens besucht. Und schon damals, als sie noch mit kurzen Röckchen in die Klasse gegangen, hatte es seinen Anfang genommen, diese — ja heute konnte sie sie beim besten Willen nicht anders nennen —, diese frivole Auffassung der Welt und der Menschen. Schon in den Köpfen der Fünfzehn- und Sechzehn jährigen hatte es herumgespukt: der Wille, den anderen in die Augen zu stechen, die Sucht, die anderen zu über strahlen durch seinen äußeren Menschen, durch seine Be kannten und Beziehungen. Einen Kitzel hatte eS ihr schon damals bereitet, wenn das väterliche Automobil sie, der Mutter zuliebe und ganz unnötigerweise, am Schulportal abgeholt hatte, und die anderen zu Fuß hatten gehen müssen. Und dann war das, was mit solchen Kleinigkeiten angefangen, weiter und weiter gegangen. Zwei Jahre war sie in Pension gewesen, in einem Institut, in dem nur die reichsten Töchter ausgenommen worden waren. Dort war es wenigstens ein bißchen anständiger zugegangen; dort hatte sie sich ein wenig gebessert und erholt. Aber das war doch nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen. Hinein gehetzt hatte sie die immer noch eitle und kokette Mutter, die sich selbst am liebsten von den jungen Herren die Kur machen ließ, von Abenteuer zu Abenteuer. Und blind war der Vater, den, weiß Gott, nichts anderes auf der Welt als das Steigen und Fallen der Kurse auch heute noch an zugehen schien. Achtzehnjährig war sie nach Hause zurückgekehrt, an einem Abend im Herbst; der Beginn der Saison stand vor der Tür. Und mit dem Tage ihrer Ankunft hatte der Tanz seinen Anfang genommen, der nach Wunsch und Willen der Mutter damit enden sollte, daß sie eine Partie machte, über die sich alle Freundinnen vor Neid und Aerger grün und gelb ärgerten. Das war nach der Mutter Willen, der sie sich damals in ihrer Torheit und Unerfahrenheit ge- fügt hatte, der eigentliche Endzweck ihres Daseins. Und nicht sie, nein, die Mitgift war der Köder, mit dem der Kavalier ergattert werden sollte. Und im zweiten Winter, nachdem dieser Tanz be gonnen, hatte sie Horst «um erste» Male im Hause ihrer Eltern gesehen, nachdem sie ihn im Herbst aus der Renn bahn von Karlshorst kennengelernt hatte. Aber der war anders gewesen als die faden Kerle, die sie sonst in den glänzenden, väterlichen Salons der Tier gartenvilla zu sehen und zu sprechen gewohnt war. Der flog nicht wie eine Motte ins Licht, für den be deutete das Geld, das ihr der Vater milzugeben hatte, eben nicht das Ziel und Ende aller Dinge. Keine drei Wochen hatte es gedauert, da hatte sie sich bis über die Ohren in den Grafen verliebt, weil er ihr unter all den anderen als ein Mann erschienen war, auch noch inmitten seiner Fehler und — Laster — ja, Laster — ein Mann, im Vergleich mit diesen Waschlappen, deren Unterhaltung man schon kannte, bevor sie den Mund zum Sprechen geöffnet hatten. Und so war die Katastrophe gekommen. Je offener sie ihm ihr Interesse zur Schau getragen, desto mehr hatte er sich zurückgezogen und desto intensiver war der Wunsch, nein, die Begierde in ihrem Innersten erwacht, ihn trotz allem zu erobern, ihn mit jedem Mittel an sich zu fesseln, und wenn dieses Mittel auch ein schlechtes gewesen wäre! Und die Mutter hatte sie in diesen ihren Plänen und nicht nur in diesen, sondern auch in der Ausführung ihres Vorhabens unterstützt. Sie hatte es geduldet, daß sie ganze Nachmittage und Abende von zu Hause fernblieb, hatte ihr Gebaren dem Vater gegenüber vertuscht, obwohl sie ganz genau darüber unterrichtet war, vaß sie stundenlang in der Tauentzinstraße herumflanicrte, einen Blick von ihm zu erhaschen, daß sie sich Rendezvous mit ihm gab, Ausritte mit ihm unternahm — bis er schließlich weich geworden war und ihr nachgegeben hatte Ihr nachgegeben? Flammenröte überflutete bei diesem Gedanken Alices Gesicht. Sie richtete sich von dem Sofa auf und starrte vor sich hin. Und doch! Kein Mensch hätte jemals etwas erfahren, wenn ihr Vater Vernunft angenommen, wenn er in letzter Stunde den Zusammenbruch des Grafen verhindert hätte, aber so — so hatte das Schicksal seinen Laus genommen, der Skandal war durch Horsts Aufbruch nach Amerika ein vollständiger geworden, und durch, Gott Weitz, welche In diskretion munkelte man in Berlin plötzlich auch von ihren Besuchen in der Wohnung des Grafen, und die Mutter hatte es vorgezogen, mit ihr auf Reisen zu gehen, ehe der Vater etwas davon erfuhr. Und nun war jener hier. Aus ihren Träumen fuhr Alice empor. Man pochte an die Tür. „Wer ist da?" rief sie, mit beinahe ängstlicher Stimme. „Geht es dir besser, Alice? Vater und ich machen uns Sorgen. So mach' doch auf; deiner Mutter wirst du doch öffnen können!" Fast willenlos erhob sich Alice. Es war ihr in diesem Augenblick, der dem ersten Wiedersehen mit Horst folgte und ihr die wahre Erkenntnis ihrer verzweifelten Lage gab, wirklich gleichgültig, ob vie Mutter kam oder nicht Und so schob sie den Riegel zurück. „Aber Kind, wie siehst du denn aus?" begann die rund liche Frau Feldberger, die jeden Sommer eine Kur in Marienbad absolvierte und dann immer behauptete, ein paar hübsche Kilo abgenommen zu haben, das Gespräch „Was machst du denn für Geschichten? Geh', wasche dir die Augen und kämme dein Haar! Papa ist ernstlich böse; der Professor weitz ja gar nicht, was er von dir denken soll, nachdem ihn Papa feierlich eingeladen hat." „Das ist mir höchst gleichgültig, was der Professor denkt, Mutter, und ob Papa den feierlich eingeladev hat oder nicht", sagte Alice. Mit einem Ruck war sie vom Sofa aufgesprungen, aus das sie sich nach dem Eintritt der Mutter niedergelegt hatte. „Ist ja doch alles gleich! Nur das kann ich nicht in Ruhe mit ansehen, wie er mtr von einer anderen weg gekapert werden soll!" „Aber Alice, ich dächte doch, Horst ist ein überwundener Standpunkt!" „Für dich vielleicht, liebe Mutter, für mich aber noch lange nicht!" „Aber du weitzt wohl nicht, was du da sagst, Alice! Nach dem, was vorgefallen, nachdem ihm Vater so die Tür gewiesen hat!" „Warum ist er uns denn nachgeretst, wenn nicht —' „Aber das redest du dir doch ein, Alice! Er ist uns nicht nachgereist; ich bin überzeugt, daß ihn nur ein Zufall nach Monte geführt hat —" „Und ausgerechnet ins Grand Hotel!" „Daß er zufällig von diesen Wilkins eingeladen zu sein scheint, will doch gar nichts besagen, Kind! Er wohnt nicht einmal im Grand Hotel!" „Zufällig!" Ein Wehes Schluchzen unterbrach Alices Antwort. „Ein ganzes Märchen hat mir dieses Fräulein Wilkins erzählt, ihren Lebensretter hat sie ihn genannt! Eine romantische Geschichte soll ihr aus dem Wege nach La Turbie passiert sein. Mutter, denke dir nur, eine roman tische Geschichte! Ein Mensch habe sie angefallen, und dann sei er gekommen wie der Lohengrin, sie aus Schmach und Not zu befreien — so ein Schwindel! Das soll unsereins glauben!" „Aber das ist doch alles Unsinn, mein liebes Kind! Nun höre mir einmal ruhig und vernünftig zu: die Sache ist doch für uns abgetan und begraben, und du wirst in deiner Lage doch nicht so töricht sein, vie immerhin gute Partie mit vem Professor, vcr noch Geheimrat und ein berühmtes Tier werden kann, einfach laufen zn lassen, weil Horst zufällig in Monte Carlo ausgetaucht ist!" Alice schwieg. Endlich tau, es von !b:cn :: „Aber wegkapern lasse ich ihn mir nicht, von einer solchen GanS, wie diese Wilkins, nicht, Mutter!" „Ich dächte, wen er beglückt, das könnte uns am aller gleichgültigsten sein, Alice!" 4 „So! Aber ich, ich habe ihn noch nicht aufgegeben, Mutter! Ich glaube dir einfach nicht, daß ihn ein Zufall bierhergefübrt haben soll. Er hat erfahren, daß ich hier in Monte Carlo bin, und er ist mir nachgereist! Sagte ich dir nicht schon gestern im CafL, datz mich der Herr, der ein paar Tische von uns satz, in allen seinen Bewegungen an Horst erinnere? Das war er, Mutter!" , „Und was willst du tun?" Lange überlegte Alice. Ihre Tränen waren vsrsiegt- Das Gefühl schien in ihrem Innern mit einem Schlage völlig verstummt; es wär, als ob ihr scharfer Verstand ganz allein an der Lösung eines Problems arbeite, das ihr am Herzen liegen mußte. Aber noch hatte sie keinen gangbaren Ausweg gefunden; denn sie erwiderte: «Was ich tun will, Mutter, das weiß ich noch nicht! Ich sehe noch nicht klar genug in diese Verhältnisse. Nur das eine weiß ich, daß ich ihn dieser Wilkins abspenstig machen und —" - „Und?" fragte Frau Feldberger gespannr. „Und — daß ich mir den Professor warm halten werde —" „Das ist wenigstens ein vernünftiger Gedanke, Alice, der vernünftigste, den du bislang geäußert hast!" Alice lächelte. „Das mag nach deiner Weltauffassung wohl wahr sein, Mutter", antwortete sie nach einer langen Pause. „Doch du hast recht! Schauderhaft sehe ich aus — so kann ich nicht —" Sie vollendete diesen Satz nicht. Sie trat vielmehr vor den Spiegel und ordnete ihr schwarzes Haar; dann nahm sie ven Schwamm von der Toilette und wischte die Tränen der Wut und Eifersucht, die noch an ihren langen, seidenen Wimpern hingen, aus den Augen. „Habt ihr für diesen Nachmittag eine Verabredung ge- troffen, Mutter?" „Frau Ribot wollte mich zu Lacroix begleiten; dort ist heute Eröffnung der Kostümausstellung!" „Du erlaubst doch, daß ich dich nicht vorthin begleite! Diese Ribot geht mir auf die Nerven!" „Und ich höre sie so gern plaudern; sie spricht ein wundervolles Französisch!" „Das scheint dir wohl nur so; ich finde, sie spricht wie eine Gemüsehändlerin aus den Hallen. Doch das wäre ja Geschmacksache. Ich wünsche bei der Lacroix viel Ver gnügen!" „Du solltest mttgehen, Alice!" „Ich bin nicht in der Stimmung, Mutter!" „Und doch hat ein gescheiter Mann uns Frauen nicht ganz falsch beurteilt, als er sagte, vaß für vie meisten von uns ein neues Kleid der erste Trost in unserem größten Schmerz sei", bemerkte Frau Feldberger, und kam sich sehr geistvoll vor. * * * In der Halle des Grand Hotels wartete Frau Ribot, mit der sich Frau Feldberger Viesen Nachmittag zum Besuch des Schneiderateliers Lacroix am Boulevard vu Nord verabredet hatte. Die Damen hatten sich ganz zufällig vor einigen Wochen bei einem Konzert im Kasino kennengelernt Frau Ribo» wohnte nicht im Grand Hotel. Als Witwe eines Pariser Advokaten mutzte sie wohl oder übel mit ver bescheidenen Pension Bon Accueil vorltebnehmen Seit vielen Jahren weilte Frau Ribot jeden Winter in der Pension Bou Accueil. Und einem jeden, ver es hören wollte, erzählte die gesprächige Dame, datz ihr verstorbener Gatte ein be kannter Gewohnheitsspieler in Monte Carlo war. Als Erbschaft habe er ihr sein unfehlbares System hinter lassen. Wenn man klug sei und sich nicht hinreißen lasse» so versicherte Frau Ribot, dann sei dieses System da einzige, das alle Garantien in sich vereinige, den, der sich seiner bediene, vor dem Aeutzersten zu bewahren. Dem» seine fünfzig bis hundert Frank verdiene man alle Tag« mit diesem System. Aber Frau Ribot behielt das Geheimnis für sich, aus welchem Wege eS ihr gelang, die Bank von Monte Carls an einem jeden neuen Tage um zwei oder auch drei Lvutzi- dvr zu erleichtern. Eben war sie im eifrigen Gespräch mit Herrn Flunschs dem Portier des Grand Hotels, begriffen. Flunschli war Deutschschweizer, der in den Sommermonaten seine Tätig keit nach Wengen im Berner Oberland zu verlegen pflegte. Frau Feldberger kam die breite Freitreppe herunter und eilte sogleich auf Frau Ribot zu. „Entschuldigen Sie tausendmal, meine Beste, daß ich Sie warten ließ; aber Sie verzeihen, meine Tochter hatte nämlich die Absicht, uns nach dem Schneideratelier Lacroix zu begleiten. Sie interessiert sich ja ungeheuer für die Modelle aus Paris, die Sie mir zeigen wollten; aber leider verhindert sie ihre Migräne —" „Das gnädige Fräulein ist wohl krank?" kam eS Ur ganz besorgtem Tone auS Frau Ribots Munde. „Nur vorübergehend", erwiderte Frau Feldberger. Dann gab sie Flunschli den Auftrag, einen Wage» »erbeizurufen, weil ihr nach Tisch das Steigen bis zu» Boulevard du Nord zu beschwerlich sei. „Haben Sie es denn auch schon gehört", wandte fich Frau Ribot sofort au Fra« Feldberger, „das unerhörte Glück dieses Grafen Recklingen, oder so ähnlich?" Vor wenigen Minuten hatte ihr der Hotelportter e» zählt, datz ganz Monte Carlo davon spreche, daß der Gras Recklingen schon mehr als Frank gewonnen Nortkebima kowt«