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Roman von Elisabeth Ney i Carlotta Dunker, IS. Fortsetzung. Nachdruck verboten. .Carlotta, das ist ja Heller Wahnsinn! Niemand wird dir die Liebe zu deinem Kinde streitig machen; aber du selbst bist viel zu jung, um für immer auf das Recht, das du an das Leben hast, zu verzichten! Wir lieben uns und gehören zusammen!* »Es ist mein fester Entschluß, Erik Ravenow: ich lebe nur meinem Kindel* antwortete sie ihm in fast unheimlich ruhigem Ton. Er ließ ihre kalte, zitternde Hand aus der seinen gleiten. Noch einmal sah er sie an, Heitz, flehend, bittend und fordernd zugleich. Sie aber lächelte traurig und küßte das Kind, das mit großen, erschrockenen Augen auf den fremden Mann starrte. Da rang es sich wie trockenes Schluchzen aus Erik Ravenows Kehle, und plötzlich wandte er sich ab und ging schwerfällig müden Schrittes davon. Carlotta Dunker sah ihm nicht nach. Sie eilte ins Haus und gab das Kind der Mizzi Hoch- lehner, die gerade unter der Tür mit ihr zusammentraf. Dann aber lag Carlotta Dunker aus dem Diwan ihres kleinen Boudoirs und weinte bitterlich. Sie weinte um eine verlorene Liebe, die sie selbst von sich gestoßen hatte und die sie doch, wie sie glaubte, niemals um des Kindes willen in ihrem Herzen dulden durfte. Ihr Herz schlug schmerzhaft laut und schrie nach dem geliebten Manne. Verzweifelt wehrte sie sich in der Stunde tiefster Herzensnot gegen dieses Gefühl. „Stark fein, Carlotta, um des Kindes willen!* flüsterte sie, und endlich gelang es ihr, wenigstens äußerlich, ruhig zu werden. Dann klingelte sie nach Mizzi Hochlehner, daß sie ihr das Kind bringen möge. * * * Einmal im Jahre, um die Osterzeit, kehrte Reinhold Thurm ins Berghaus ein. Dann gab es einen Jubel ohne Ende. Oft dehnte sich ein solcher Besuch bis zum Anfang des Hochsommers aus; dann zog es den alten Herrn doch wieder nach seiner geliebten Heimatstadt zurück. * * * Zwei Jahre waren seit der Begegnung Carlotta Dun kers mit Erik Ravenow verstrichen. Carlotta Dunker lebte noch immer oben im Berghause. Sie hatte sich an die Einsamkeit gewöhnt, und wenn doch einmal Vie Stunde über sie kam, da sie die Sehnsucht nach der Welt da draußen zu übermannen drohte, flüchtete sie zu ihrem blonden Liebling und holte sich dort Trost und neuen Mu«. Carlotta Dunker lebte ganz ihrem Kinde und wachte in beinahe übertriebener Acngstlichkeit über dessen Wohl und Wehe. Der kleine Bursche sprang nun bereits aus seinen sesten, dicken Beinchen aus der groben Wiese, die sich an die Ter rasse anschloß, umher und jauchzte in Hellem Entzücken, wenn seine junge Mutier gleich ihm mittat. So war es wieder einmal Sommer geworden. ES war einer jener drückend-heißen Sommertage, wie sie hier oben in luftiger Höhe nur selten vorkommen. Carlotta Dunker lag etwas apathisch im Liegestuhl auf der Terrasse und sah ihrem Jungen zu, der splitternackt im Sonnenschein einem Schmetterling nachjagte. Sie lächelte glückselig. Plötzlich hielt der kleine Bursche in seinem Spiel inne und blickte neugierig den Berg hinab. Carlotta Dunker wurde aufmerksam und bemerkte den Briefboten, der ziemlich eilig den Feldweg emporgeklettert kam. Unwillkürlich erschrak sie heftig. Heute war kein Posttag, also konnte der Mann nur eine Depesche bringen. Sie gedachte des Tages, an dem die Depesche, die die Nachricht von ihres Vaters Tode gebracht hatte, ein- getrosscn war, und eine quälende Unruhe beschlich sie. Schließlich hielt sie es nicht aus und eilte dem Manne entgegen. Gleich dort, wo sie das Telegramm von dem Boten empfing, löste sie das Siegel und überflog die wenigen Worte. Die alte Anne, das langjährige Mädchen ihres Vater hauses, bat um ihr Kommen, da Tante Klothilde ernstlich erkrankt sei. Für einen Moment stand Carlotta Dunker wie erstarrt vor Schreck über die schlimme Nachricht. Hatte sie doch die liebe, alte Dame in wenigen Tagen als Sommergast er wartet. Es schien sich um eine sehr ernste Erkrankung zu han deln, sonst hätte die alte Anne nicht telegraphiert. Sie mußte nach München reisen, unverzüglich sogar. Dies hieße aber, ihr Kind allein lassen, von dem sie sich bisher kaum eine Stunde getrennt hatte. Angst beschlich sie bei diesem Gedanken, und sie nahm den kleinen Burschen in den Arm und drückte ihn herz haft, so daß er sich, laut schreiend, zu befreien suchte. „Er behauptet sich schon; er wird selbständig*, dachte sie, und nun entschied sie sich, das Kind der altbewährten Mizzi Hochlehner anzuverttauen. Sie mutzte reisen; es war ihre Pslicht, und mitnehmen konnte sie den Jungen nun einmal nicht. Also eilic sie jetzt hastig ins Haus und schickte die Mizzi zu dem Bauern Stockinger, damit er einen Wagen zur Bahn bereitstelle. „Wirst du dich auch nicht allein fürchten, Mizzi?* fragte Carlotta Dunker, als ihr später das Mädchen beim Ein- packen zur Hand ging. „Ich habe allzeit noch keine Angst gehabt, gnädige jFrau, und der Stockinger ist ja kauin einen Steinwurf weit entfernt, wenn etwas passiere« sollte*, sagte das Mädchen lachend. „Um den Bub braucht sich die gnädige Frau auch nicht zu sorgen; ich werde Ihn so halten, datz er gesund und munter bleibt.* „Tue das, Mizzi, versprich es mir!* entgegnete Car lotta Dunker, ängstlich aus den Kleinen blickend, der augen blicklich emsig mit dem Schloß ihres Koffers beschäftigt war. Die Mizzi nickte zur Bekräftigung energisch, und Car lotta Dunker schalt sich nuu selbst ob ihrer Ueberängstlich- keit. Hatte sie doch all die lange Zeit immer ganz und gar sich auf das brave junge Ding verlassen können. Dann, als der Wagen vor das Haus fuhr, überfiel sie auf einmal wieder eine unerklärliche Angst um das Kind. Sie herzte und küßte es, bis dann der alte Stockinger das Bedenken aussprach, daß sie nun sehr leicht den Zug nicht mehr erreichen könnten. Da stellte sie ihren Liebling endlich wieder auf seine zwei Beinchen zurück und übergab ihn der Mizzi Hoch lehner. „Hüte mir den Jungen!* ries sie ihr noch einmal von dem bereits fahrenden Wagen zu. * * Carlotta Dunker erreichte am frühen Morgen des nächsten Tages ihre Heimatstadt. Das Auto brachte sie nach einstündiger Fahrt nach ihrem Vaterhause, dem sie nun schon drei Jahre fern geblieben war. Ihr Herz schlug unruhig und bang. Wie würde sie die Kranke antreffen? Auf ihr Klingeln am Gartentor erschien niemand, um ihr zu öffnen. Schließlich drückte sie versuchsweise die Klinke nieder und bemerkte nun erst, daß das Tor nur angelehnt war. Eilig durchquerte sie den Garten und trat in das Haus hinein. Es war unheimlich still, so daß sie, unwillkürlich lau schend, stehenblieb. Wo war die alte Anne? Sie ermannte sich und stieg die Treppe zum ersten Stockwerk empor. An der Tür der Tante blieb sie stehen. Nichts rührte sich da drinnen. Sie klopfte. Es erfolgte keine Antwort. Endlich drückte sie die Klinke nieder und öffnete die Tür. Sie sah die alte Anne, die am Bett der Tante fest ein geschlafen war, und rief sie leise an. Das Mädchen schrak empor, stieß aber dann zugleich einen Schreckensruf aus und deutete aus die im Bett ruhende Gestalt Klothilde Dunkers. Carlotta war schnell an das Lager geeilt und sah in das starre Gesicht der Tante, das bereits die Totenmaske trug. In stummem Schmerz drückte sie ihr die alten, lieben Augen zu. Die alte Anne schluchzte laut und beteuerte immer aufs neue, daß sie bis nach Mitternacht, gewacht habe und daß bis dahin mit dem gnädigen Fräulein nichts gewesen sei. Der Arzt hätte den Zustand ihres Herzens auch für besser erklärt, und nun müsse das ganz plötzlich gekommen sein. Carlotta Dunker beruhigte die alte Anne, so gut sie es vermochte, und schickte sie aus dem Zimmer. Lange blieb sie dann mit der geliebten Toten allein und streichelte immer wieder die alten, starren Hände. Dann erhob sie sich, um den Arzt zu benachrichtigen. Als dieser eintraf, stellte er schon nach kurzer Unter suchung Herzschlag sest. „Sie ist sozusagen beim Einatmen gestorben*, erklärte er Carlotta Dunker ernst. „Sie brauchen sich also keine Gedanken zu machen, gnädige Frau. Der Tod überraschte die alte Dame im Schlaf.* Carlotta Dunker hatte Professor Thurm von ihrer An wesenheit in München benachrichtigt, und der alte Herr half ihr nun nach Kräften. Als man Klothilde Dunker dann nach drei Tagen zur letzten Ruhe bettete, waren Carlotta Dunker, Reinhold Thurm und die alte Anne die einzigen, die hinter dem Sarge herschritten. Kaum aber war das Begräbnis vorüber, so packte Carlotta Dunker wieder die furchtbare Unruhe um ihr Kind. Reinhold Thurm versuchte sie umsonst zu überreden, noch einige Tage in München zu verleben. Sie ließ nichts gelten und wäre am liebsten aus der Stelle abgereist. Nur die Ordnung des Nachlasses hielt sie noch einen weiteren Tag auf. Carlotta Dunker bestimmte die alte Anne, daß sie auch weiterhin in ihrem Vaterhause bleiben und nach dem Rechten sehen sollte, und Onkel Thurm bekam die Ober aufsicht. Er versprach auch bereitwilligst, alles wohl zu verwalten. So kam es, daß Carlotta Dunker fünf Tage nach ihrer Abwesenheit vom Bergland endlich wieder die Heimreise antrat. Je mehr sie sich dann der kleinen Station näherte, desto unruhiger begann ihr Herz zu schlagen. Sie hatte ihr Kommen telegraphisch gemeldet. Da der Zug kurz nach sechs Uhr abends das Ziel erreichte, hoffte sie die Mizzi Hochlehner mit ihrem Liebling an der Bahn zu sehen. Aber es war keine Freude, die ihr das Herz in un erklärlichem Krampf zusammenschnürte. Irgendein Ahnen von etwas Schlimmem hatte sich ihrer bemächtigt und machte ihr die letzte Viertelstunde Fahrt zur unendlichen Qual. Lopvrixkt b^ dlartiu kouMvangor, UM« (Saals) Als dann der Zug in die Station einfuhr, spähte sie ängstlich suchend umher; doch sie vermochte die Heide« Er sehnten nirgends zu erblicken. -- Drüben an der Chaussee hielt der Wagen des Bauern Stockinger. Mit einem Sprunge stand Carlotta Dunker auf dem Bahnsteig und hastete zu dem wartenden Gefährt. Sie sah in das alte, faltige Gesicht des Bauern und er schrak; denn dessen sonst so pfiffig blitzende Augen sahen ihr so seltsam-ernst entgegen. „Wie geht es meinem Liebling, Stockinger? Weshalb kam die Mizzi nicht mit ihm zur Bahn?* fragte sie mit leicht zitternder Stimme. Der Bauer räusperte sich eigentümlich verlegen, und murmelte dann: „Nun — nun, gnädige Frau, es wird schon wieder besser werden. Der Kleine hat seit heute ein wenig Fieber, und da dachte die Mizzi, daß es besser sei, wenn er daheim bliebe.* „Fieber, sagen Sie, Stockinger?* rief Carlotta Dunker erschrocken aus. „Ist denn Doktor Reindel schon benach richtigt?* „Nein, aber wir dachten, vielleicht wäre es gut, wenn die gnädige Frau den Doktor gleich mit hinaufnehmen würde. Es ist nur, weil halt jetzt überall in der Gegend der Scharlach ist." „Scharlach? O mein Gott!* unterbrach ihn Frau Car lotta ängstlich, und Tränen namenloser Angst drängten sich in ihre Augen. „Nun — nun, es wird schon wieder besser werden*, brummte der alte Bauer abermals tröstend, und hieb auf die Pferde ein, so daß diese erschrocken wie der Wind in der Richtung zum Hause des Doktors davonstoben. Doktor Reindel war über Land gefahren und würde der schlimmen Scharlachepidemie wegen kaum vor dem späten Abend zurückerwartet. Carlotta Dunker ließ einige aufklärende Zeilen für ihn zurück, in denen sie ihn beschwor, um jeden Preis so schnell wie möglich nach ihrem Kinde zu sehen. Dann stieg^ sie wieder in den Wagen, den Bauer zu höchster Eile an treibend. Zwei Stunden dauerte die Fahrt zum Berghause. Carlotta Dunker meinte verzweifeln zu müssen. Ganz verweint kam ihr dann oben die Mizzi Hochlehner entgegen und beteuerte, vatz sie nichts versäumt habe und datz das Fieber heute früh ganz plötzlich gekommen sei. Carlotta entgegnete nichts; sie eilte bleich, von furcht barer Angst gefoltert, zum Kinderzimmer hinaus. Sie fand ihren Liebling mit brennenden Fieberbäckchen in seinen Kissen liegen. Er hatte die Augen geöffnet; aber sie waren matt und glanzlos und starrten ohne Teilnahme an ihr vorüber. Carlotta bedeckte sein glühendes Gesichtchen mit Küssen. Tränen netzten seine Wangen; aber er erkannte die Mutter nicht mehr. Carlotta Dunker mutzte sich später überzeugen, daß nichts versäumt worden war. Mizzi Hochlehner hatte fleißig Umschläge gemacht und Tee gekocht und sogar nach dem Arzt geschickt. Leider war dieser schon seit den Vor mittagsstunden noch nicht heimgekehrt, und so traf das Mädchen keinerlei Schuld. Carlotta Dunker versuchte es mit Wadenpackungen und kühlte mit dem eisigen Bergquellwasser die heiße Stirn ihres armen Lieblings, ohne datz jedoch eine Besserung eintreten wollte. Stunde um Stunde verrann in furchtbarer Pein. Endlich, eine Stunde nach Mitternacht, kam der Arzt. Müde und abgehetzt, ließ er sich, ein wenig verschnau fend, von der jungen Mutter Bericht erstatten. Sein Gesicht wurde dabei immer ernster, und schließlich sprang er von seinem Stuhl auf und eilte, ohne ein Wort zu sagen, die Treppe nach dem Zimmer des kleinen Kranken hinauf. Schon ein kurzer Blick auf das Kind bestätigte ihm den Krankheitsverdacht Carlotta Dunkers. „Scharlach*, murmelte er, „und zwar ein recht böser, wie es den Anschein hat. Ich möchte nur wissen, wie die Krankheit bis hier heraufgekommen ist. Unten im Tal liegt fast in jedem zweiten Hause ein Kind danieder. Selbst Erwachsene hat es vereinzelt getroffen.* Carlotta Dunker weinte leise vor sich hin. Doktor Reindel tröstete sie mit der guten, gesunden Konstitution des Kindes und machte alles zu einer In jektion bereit. Dann blieb er noch lange am Krankenlager und beobachtete die Wirkung der Spritze. Das Kind wurde allmählich ruhiger; das Fieber schien etwas zurückgegangen zu sein. Carlotta wich nicht vom Bett ihres Lieblings. Doktor Reindel riet ihr, etwas zu ruhen; sie aber schüttelte nur den Kopf und blieb. Im Morgengrauen stieg der Arzt ins Tal hinab, um nach seinen anderen Kranken zu sehen. Er hatte ver sprochen, am Abend wiederzukommen, zumal er einen Hilfsarzt in der nahen Kreisstadt angefordert hatte, da er es allein nicht zu schaffen vermochte. Gegen Morgen wurde der kleine Patient immer ruhiger, und Carlotta Dunker wagte es, ein wenig auf zuatmen. Hatte doch das Kind sie erkannt und bet ihrem Anblick freudig gelächelt. Als aber der Spätnachmittag herankam, stieg das Fieber wieder in rasender Schnelligkeit. Carlotta Dunker schickte in höchster Not den Wagen hinab zum Arzt. Aber sie mußte sich dennoch einige Stunden gedulden, bis der Ersehnte endlich eintraf. »Ich hoffte bereits auf eine gewaltige Besserung in des Kleinen Zustand, weil Sie am Morgen nicht nach mir sandten*, sagte er erstaunt. Fortsetzung folgtz