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zwei Hauptteile, die in sich nochmals zweige teilt sind: I. Andante-Ailegretto, II. Allegro- Adagio. Am ehesten vielleicht dringt man in das Wesen des Werkes, in seine Organik ein, wenn man mit der ungewohnten Satzfolge (langsam, lebhaft, schnell, sehr langsam) bild hafte Vorstellungen verknüpft: der erste Satz gibt die Anmut und Reinheit, die ungebroche ne Laune und Heiterkeit des Kindes wieder, das schon auf seinem Schmerzenslager liegt (Andante), im Allegretto scheint es zu träu men. Im zweiten Satz gestaltet der Komponist die Sterbeszene mit visionärer Eindringlichkeit. Das schmerzhaft zerrissene Allegro schildert das Aufbäumen des kranken Mädchens gegen den Tod, das Adagio sein Sterben, seine er greifende „Verklärung". Für den musikalischen Aufbau des Werkes ent scheidend wird das am Beginn und Schluß des Andante erscheinende Quintenmotiv, das im Allegretto wieder auftaucht, zu Anfang des Allegro von den Streichern und Bläsern „ver zerrt" wird und im Schlußakkord des Adagio im gedämpften Streicherklang „erlischt". Zu die sem Motiv stehen in engster Beziehung die Hauptgedanken der einzelnen Sätze, die aus einer zwölftönigen Terzenreihe entwickelt wer den. Im Allegretto begegnen (mit regelrechter dreimaliger Triobildung bei Wiederholung des Hauptsatzes) walzer- und ländlerhafte An klänge, ein Kärntner Volkslied scheint Berg inspiriert zu haben. Der Todeskampf im zwei ten Satz (Allegro) wird durch eine erregte Ka denz des Soloinstruments mit Orchesterbeglei tung dargestellt. Als eine der großartigsten Stellen empfinden wir — ähnlich dem Einsatz des BACH-Themas in der „Kunst der Fuge" — im Adagio den Eintritt des Bachschen Sterbe- chorales „Es ist genug" (aus der Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“, BWV 60, mit der unser heutiges Konzert ausklingt), der völlig organisch in die Zwölftonstruktur eingefügt wird. Der Gefühlsausdruck dieser Stelle ist einzigar tig und weist mit Entschiedenheit auf die Neu artigkeit der Bergschen Tonsprache hin, die, „eine Verschmelzung von Klangfarbe und Harmonik" in . . . „Vergeistigung die musika lischen Elemente neu zusammenfaßt“ (Wörner). Der zitierte Bach-Choral setzt zuerst in der Solovioline ein (Berg unterlegte ihm die Wor te: „Es ist genug, Herr, wenn es dir gefällt, so spann mich doch aus"). Darauf erscheint er — in der originalen Bachschen Harmoni sierung! — in den Holzbläsern. Diesem Gesang zwischen Violine und Holzbläsern folgt eine hymnische Steigerung, die in einem erschüt ternden, leidenschaftlichen Orchesterausbruch gipfelt. Der Satzausklang - kontrastierend zu dieser Erregung — wirkt verklärt. Die Verwendung des Bach-Chorales durch Al ban Berg mag durch das Finale von Gustav Mahlers „Auferstehungssinfonie" über Klop- stocks Kirchenlied wie vor allem durch Arnold Schönbergs nachschöpferische Beschäftigung mit Bachschen Chorälen und Choralbearbei tungen angeregt worden sein. Sie stellt eine variationsmäßige Behandlung des von Bach harmonisierten Ahleschen Kirchenliedes dar, geschult an der von den alten Orgelmeistea^ gepflegten Kunst der Choralvariation und gleich den Gesetzen der Schönbergschen Sar^ lehre unterworfen. Die Komposition von Kirchenkantaten, die zu Johann Sebastian Bachs Amtspflich ten gehörte, erlebte im 18. Jahrhundert einen Aufschwung auf Grund der besonderen Stel lung, die diese Gattung im evangelischen Got tesdienst einnahm. Kantaten, die ihren festen Platz in den Sonn- und Feiertagsgottesdiensten hatten, wurden entweder vor oder nach der Predigt gesungen und unterstützten musikalisch die Besinnung auf den liturgischen Text. Bach hinterließ nach seinem Tode fünf vollständige Jahreszyklen, von denen heute nur noch drei erhalten geblieben sind, meist Werke aus der Leipziger Zeit. Nicht alle seine Kantaten, die sich durch einen unerschöpflichen Formenreich tum auszeichnen, gehören streng genommen zu der Gattung. Bach selbst hat diesen Na men übrigens für seine Kompositionen nicht benutzt. Er bezeichnete sie als Concerto, Con certo da chiesa, Concerto in dialogo oder ge brauchte die Anfangszeile des Textes als Titel. Offiziell wurde die Bezeichnung Kantate in der alten Bach-Gesamtausgabe 1850 wendet. Auch die Kantate Nr. 60 „O Ewig keit, du Donnerwor t", für den 24. Sonntag nach Trinitatis 1732 geschrieben, nimmt als eine der wenigen Dialogkomposi tionen eine Sonderstellung unter den Kantaten Bachs ein. In diesem Werk für Alt, Tenor und Baß vertonte der Komponist eine Epistel aus dem Kolosserbrief in Form eines Zwiegesprächs zwischen den Kolossern und dem Apostel Pau lus. Auf dem Umschlag des Manuskripts ver zeichnete er den Titel „Dialogus zwischen Furcht und Hoffnung". Die von ihm gewähl ten allegorischen Personen stehen sich als Pole elementaren menschlichen Fühlens gegenüber. Die Gestalt der Furcht charakterisierte Bach mit der tiefen Stimmlage des Alt und für die Hoffnung wählte er die helle, durchdringendere des Tenors. Noch ehe die Singstimmen einset zen, erklingen ihre Motive, das der Furcht ge kennzeichnet durch Tonrepetitionen und gesto ßene Sechzehntel in den Streichern und das der Hoffnung charakterisiert durch schwebende Läufe in den Oboen d'amore. Als Eingangs choral verwendete Bach Johann Rists Lied „O Ewigkeit, du Donnerwort", das er schon in der gleichnamigen Kantate Nr. 20 (um 1723/25) #utzt hatte, die ansonsten einen anderen hat. Die Altstimme, die diesen Choral in ert, wird von einem unisono geführten Horn begleitet. Die Musik der folgenden Rezitative und Duette unterstreicht das Ringen von Furcht und Hoffnung und weist auf eine dra matische Zuspitzung des Konfliktes hin. The men voller Chromatik und Synkopen, als Sym bole des Schreckens, stehen ruhigen und zu versichtlichen Motiven gegenüber. Auf- und abwärtsgehende Bewegungen in den Strei chern drücken die Unruhe des Gemüts aus. Höhe- und Wendepunkt der Kantate ist das Rezitativ „Der Tod bleibt doch der menschlichen Natur verhaßt". Bach steigert hier das Schrek- kensmotiv der Furcht so, daß für die Antwort der Hoffnung kein Raum bleibt. Stattdessen er klingt eine Baßstimme mit Worten aus der Of fenbarung des Johannes. Der Baß steht nach alter, vorreformatorischer Tradition für die Stimme Christi. Die bekräftigenden Schlußworte des Rezitativs verkünden den Sieg der Hoff nung über die Todesfurcht. Eine Rückkehr zum Eingangschoral war auf Grund der Entwicklung des Dialogs zwischen • Allegorien und des Eingreifens der Stirn- Christi nicht mehr möglich. So legte Bach seinem Schlußchor den Choral „Es ist genug" von Rudolf Ahle in eigener Harmonisierung zugrunde. Obwohl er den schlichten Grund charakter dieses Satzes beibehielt, weitete er ihn mit Hilfe gegensätzlicher Bewegungen in den Singstimmen, harmonischer Spannungen und Chromatik räumlich aus. Johann Sebastian Bach: Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort" („Dialogus zwischen Furcht und Hoffnung") I. Duett Alt (Die Furcht) / Tenor (Die Hoffnung) O Ewigkeit, du Donnerwort, O Schwert, das durch die Seele bohrt, O Anfang sonder Ende! O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit, ich weiß vor großer Traurigkeit nicht, wo ich mich hinwende; mein ganz erschrock’nes Herze bebt, daß mir die Zung am Gaumen klebt. Herr, ich warte auf dein Heil. II. Rezitativ Alt (Die Furcht) / Tenor (Die Hoffnung) O schwerer Gang zum letzten Kampf und Streite! Mein Beistand ist schon da, mein Heiland steht mir ja mit Trost zur Seite! Die Todesangst, der letzte Schmerz ereilt und überfällt mein Herz und martert diese Glieder. Ich lege diesen Leib vor Gott zum Opfer nieder. Ist gleich der Trübsal Feuer heiß, genug, es reinigt mich zu Gottes Preis. Doch nun wird sich der Sünden große Schuld vor mein Gesichte stellen! Gott wird deswegen doch kein Todesurteil fällen. Er gibt ein Ende den Versuchungsplagen, daß man sie kann ertragen. III. Duett Alt (Die Furcht) / Tenor (Die Hoffnung) Mein letztes Lager will mich schrecken, mich wird des Heilands Hand bedecken, des Glaubens Schwachheit sinket fast, mein Jesus trägt mit mir die Last. Das offne Grab sieht greulich aus, es wird mir doch ein Friedenshaus. IV. Rezitativ Alt (Die Furcht) und Arioso Baß (Christus) Der Tod bleibt doch der menschlichen Natur verhaßt und reißet fast die Hoffnung ganz zu Boden. Selig sind die Toten. Ach! Aber ach, wieviel Gefahr stellt sich der Seele dar, den Sterbeweg zu gehen! Vielleicht wird ihr der Höllenrachen den Tod erschrecklich machen, wenn er sie zu verschlingen sucht; vielleicht ist sie bereits verflucht zum ewigen Verderben. Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben.