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Mythologie und Natur seines Landes zum Schaffen angeregt wurde, Motive aus der Volksmusik verwendete er nirgends. Gleichwohl ist seine eigenständige, zwischen Spätromantik und neuen musikalischen Bestrebungen des 20. Jahr hunderts stehende Musik von ausgesprochen nationaler Haltung, in der Stimmung wie im Tonfall. „Die .Weise’ seines Landes fließt ihm aus dem Herzen in die Feder", sagte Busoni, der zu den ersten ausländischen Vorkämpfern des großen Finnen gehörte. Die Eigenart seines elementaren, urgesunden Persönlichkeitsstils fand keine Nachfolge. Während sein Stil in den Jahren nach der Jahrhundertwende zu fast klassischer Klärung gelangte bei impressionistischem Einschlag, ist das Schaf fen der neunziger Jahre, dem auch die 1898/99 entstandene 1. Sinfonie e-Moll op. 39 entstammt, durch unmittelbaren Gefühlsreichtum, instrumentale Farbigkeit und blühende Melodik, durch ein höchst subjektives Sturm-und-Drang- Pathos charakterisiert. Orchestrale Kraft- und Massenwirkungen werden in reichem Maße genutzt. Die 1. Sinfonie stellt wie die meisten der Sibelius- Sinfonien eine ins Große geweitete sinfonische Fantasie dar (das Finale nennt der Komponist selbst „quasi una Fantasia"). Die rhapsodische Freizügigkeit in der Formbehandlung unterstreicht die subjektive Haltung dieser großartigen Stimmungs- und Ausdrucksmusik, die freilich, wie Sibelius einmal im Hinblick auf seine gesamte Sinfonik äußerte, „als musikalischer Ausdruck ohne jedwede literarische Grundlage erdacht und ausgearbeitet worden ist". Dennoch mag der Hörer beim Anhören des Werkes an einen anderen Ausspruch des Komponisten denken: „Die Wunder der Natur erhoben mir immer wieder das Herz", denn dieses außerordentliche Naturerlebnis, dessen er fähig war, spiegelt sich auch in seiner 1. Sinfonie wider, in der die Schwermütigkeit, Herbheit finnischer Land schaft musikalischen Ausdruck fand. Eine melancholisch-einsame Weise der Soloklarinette, von dumpfem Pauken grollen unterstützt (Andante ma non troppo), leitet zum Allegro-Hauptteil des ersten Satzes hin, der mit plötzlichem Streichertremolo, energischen, rhythmisch kantigen Motiven eine dramatische Erregung herbeiführt, nach deren Höhepunkt und Abklingen in den Flöten ein idyllisches, dabei markantes Thema erscheint. Auf diesem Material baut der Satz auf, dessen starke, rhapsodische Kontrast wirkungen und Kraftausbrüche einen beinahe grimmigen Zug besitzen. Elegisch schwermütige Stimmungen herrschen im Andante vor. Tröstlichen Gedanken wird nur vorübergehend Raum gelassen, etwa in der leidenschaftlichen Steigerung in der Mitte des Satzes. Grell, robust ist der musikalische Ausdruck des rhythmisch gespannten Scherzos, dessen Hauptthema auch die Pauken solistisch über nehmen. Eine gewisse Entspannung bringt das schwärmerische, zarte E-Dur-Trio. Die Klarinettenmelodie vom Anfang des ersten Satzes leitet das Finale ein, pathetisch-breit instrumentiert und den Streichern zugewiesen. Aus den knappen, spannungsträchtigen Motiven des anschließenden Allegro molto entfaltet sich in den Violinen ein breitströmendes, gesangliches Thema, das bei seiner Wieder holung zum machtvollen, krönenden Schluß der Sinfonie führt. Diese Coda ist von unerbittlicher kämpferischer Entschlossenheit, von ungebrochener Kraft ge prägt. Bezeichnenderweise ist das heroisch-tragische Pathos, die immer wieder durch brechende trotzig männliche Haltung des Werkes als symbolisches Bild von Finnlands Kampfbereitschaft gegen das Zarenregime gedeutet worden. Dr. Dieter Härtwig II1-9-4 Jt 6035/12/83