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me hindurchkämpft und sie endlich überwindet. In formaler Hinsicht wird dabei in diesem Werk zum erstenmal in der Geschichte des Instrumentalkonzerts das Konzert der Sinfonie angeglichen und auch in der Verarbeitung des thematischen Materials dem sinfonischen Prinzip unterworfen. So wie beim Soloinstru ment das Virtuose jetzt vollkommen in den Dienst der inhaltlichen Aussage gestellt wird, wird nun auch das Orchester aus seiner bisher größtenteils nur begleitenden Funktion ge löst — Klavier und Orchester konzertieren im dramatischen, spannungsgeladenen Mit- und Gegeneinander in absoluter Gleichberechti gung. Das plastisch-einprägsame, männliche Haupt thema des ersten Satzes (Allegro con brio) setzt sich aus einem aufsteigenden c-Moll- Dreiklang, einem abwärts zum Grundton fal lenden Schreitmotiv und einem ausgesprochen rhythmischen Quartenmotiv zusammen, das besonders in der Coda (hier von den Pauken gespielt) wichtig für die thematische Entwick lung wird. Einen Gegensatz dazu bringt ein schwärmerisches, gesangvolles zweites Thema in der Paralleltonart Es-Dur. Nachdem das Hauptthema die orchestrale Exposition ener gisch beendet hat, beginnt in der an Ausein andersetzungen und Spannungen reichen, die Themen meisterhaft verarbeitenden großen Durchführung das intensive Wechselspiel der beiden Partner, das schließlich noch nach der Kadenz der Solisten in der Coda eine letzte Steigerung erfährt. Schon rein durch seine Tonart E-Dur hebt sich das folgende, innig schöne Largo merklich von den Ecksätzen ab. Der dreiteilig angelegte Satz, von dem eine gelöste, feierlich-ruhevolle Stimmung ausgeht, setzt solistisch ein; das zuerst vom Klavier vor getragene Thema ist von klassischer Größe und Erhabenheit. Im Zwiegespräch mit dem Orchester wird es dann durch das Soloinstru ment mit feinem, filigranhaften Figurenwerk umspielt. Harfenähnliche Arpeggien des Kla viers umranken im Mittelteil des Largos den Gesang der Flöten und Fagotte, bis in der Reprise wieder die Ornamentik des beglei tenden Soloinstumentes, jetzt noch reicher an gewendet, kennzeichnend wird. Der lebhafte, humorvoll-energische Finalsatz, ein Rondo, führt in die Haupttonart c-Moll zurück. Wie derum beginnt der Solist mit dem Hauptthema, das zupackend-trotzige Züge trägt und im Verlauf des Satzes im geistvollen Dialog zwi schen Orchester und Klavier mit Varianten im mer wieder auftaucht, wobei interessante har monische Rückungen, eigenwillige Modulatio nen charakteristisch sind. Nach einer zweiten kurzen Kadenz des Klaviers findet ein Wechsel von Takt, Tempo und Tonart statt. Die stürmi sche Coda ( 6 / 8 -Takt, Presto) schließt in strah lendem C-Dur schwungvoll und glänzend das Konzert ab. Eine eigenartige Stellung in der Musikge schichte des 20. Jahrhunderts nimmt Jean Sibelius, der Begründer der national finnischen Kunstmusik, ein. Der 1865 in Hä- meenlinna (Tavestehus, Finnland) Geborene sollte eigentlich Jurist werden, studierte jed^M Musik bei M. Wegelius in Helsinki, bei AlbW? Becker in Berlin und schließlich bei Karl Gold mark und Robert Fuchs in Wien. 1893 kehrte er wieder in die Heimat zurück, wirkte zunächst als Theorielehrer an Helsinkier Musikschulen, bis er sich, da er vom finnischen Staat ein Sti pendium auf Lebenszeit erhielt, gänzlich sei nem kompositorischen Schaffen widmen konn te. 37 Kilometer von Helsinki, in Järvenpää, ließ er sich 1904 in herrlichster Landschaft ein Haus bauen, in dem er bis zu seinem Tode im Jahre 1957 lebte und arbeitete. Seit 1929 veröffentlichte Sibelius keine Werke mehr. Er schrieb fortan nur noch Musik, die niemand, nicht einmal seine Frau, hören durfte. An Sta peln von Notenblättern klebten Etiketten: „Nicht anrühren" oder „Erst nach meinem Tode zu öffnen". Aber der Nachlaß enthielt kaum Manuskripte. Der Komponist hatte offen bar alles kurz vor seinem Tode vernichtet. Er sagte einmal: „Diktatur und Krieg widern mich an. Der bloße Gedanke an Tyrannei und Unterdrückung, Sklavenlager und Menschen verfolgung, Zerstörung und Massenmord ma chen mich seelisch und physisch krank. Das ist einer der Gründe, warum ich in über zwo* zig Jahren nichts geschaffen habe, was ich n® ruhigem Herzen der Öffentlichkeit hätte geben können. Ich habe manches geschrieben, aber etwas aufführen zu lassen, dazu fehlte mir . . . ja, das wollte ich eben nicht." Zum Bilde Sibelius’ gehört es auch, daß er sich kurz vor und nach der Jahrhundertwende der national finnischen Freiheitsbewegung gegen die Unter drückungsmaßnahmen der zaristischen Behör den anschloß. Seine berühmten Tondichtungen nach dem finnischen Nationalepos „Kalewala" oder die sinfonische Dichtung „Finlandia" ste hen in engem Zusammenhang mit diesen na tionalen Bestrebungen. Zu Sibelius’ wichtigsten Werken rechnen neben zahlreichen Liedschöp fungen, Klavierstücken, Volksliederbearbeitun gen, Chören und einer Oper ein Violinkonzert, die sinfonischen Dichtungen und vor allem sieben Sinfonien, die den Komponisten als größten finnischen Sinfoniker ausweisen. So sehr auch der Meister von der Mythologie und Natur seines Landes zum Schaffen angeregt wurde, Motive aus der Volksmusik verwendete er nirgends. Gleichwohl ist seine eigenständige, zwischen Spätromantik und neuen musikali schen Bestrebungen des 20. Jahrhunderts ste hende Musik von ausgesprochen nationaler Haltung, in der Stimmung wie im Tonfall. „Die .Weise' seines Landes fließt ihm aus dem zen in die Feder", sagte Busoni, der zu den en ausländischen Vorkämpfern des großen Finnen gehörte. Die Eigenart seines elementaren, urgesunden Persönlichkeitsstils fand keine Nachfolge. Wäh rend sein Stil in den Jahren nach der Jahrhun dertwende zu fast klassischer Klärung gelangte bei impressionistischem Einschlag, ist das Schaffen der neunziger Jahre, dem auch die 1898/99 entstandene 1. Sinfonie e-Moll o p. 3 9 entstammt, durch unmittelbaren Ge fühlsreichtum, instrumentale Farbigkeit und blühende Melodik, durch ein höchst subjekti ves Sturm-und-Drang-Pathos charakterisiert. Orchestrale Kraft- und Massenwirkungen wer den in reichem Maße genutzt. Die 1. Sinfonie stellt wie die meisten der Sibelius-Sinfonien eine ins Große geweitete sinfonische Fantasie dar (das Finale nennt der Komponist selbst „quasi una Fantasia“). Die rhapsodische Frei zügigkeit in der Formbehandlung unterstreicht die subjektive Haltung dieser großartigen Stimmungs- und Ausdrucksmusik, die freilich, wie Sibelius einmal im Hinblick auf seine ge samte Sinfonik äußerte, „als musikalischer Ausdruck ohne jedwede literarische Grundlage ^feicht und ausgearbeitet worden ist". Den- mag der Hörer beim Anhören des Wer kes an einen anderen Ausspruch des Kompo nisten denken: „Die Wunder der Natur erho ben mir immer wieder das Herz", denn dieses außerordentliche Naturerlebnis, dessen er fähig war, spiegelt sich auch in seiner 1. Sinfonie wider, in der die Schwermütigkeit, Herbheit fin nischer Landschaft musikalischen Ausdruck fand. Eine melancholisch-einsame Weise der Solo klarinette, von dumpfem Paukengrollen unter stützt (Andante ma non troppo), leitet zum Allegro-Hauptteil des ersten Satzes hin, der mit plötzlichem Streichertremolo, energischen, rhythmisch kantigen Motiven eine dramatische Erregung herbeiführt, nach deren Höhepunkt und Abklingen in den Flöten ein idyllisches, dabei markantes Thema erscheint. Auf diesem Material baut der Satz auf, dessen starke rhapsodische Kontrastwirkungen und Kraft ausbrüche einen beinahe grimmigen Zug be sitzen. Elegisch-schwermütige Stimmungen herrschen im Andante vor. Tröstlichen Gedan ken wird nur vorübergehend Raum gelassen, etwa in der leidenschaftlichen Steigerung in der Mitte des Satzes. Grell, robust ist der musika lische Ausdruck des rhythmisch gespannten Scherzos, dessen Hauptthema auch die Pauken solistisch übernehmen. Eine gewisse Entspan nung bringt das schwärmerische, zarte E-Dur- Trio. Die Klarinettenmelodie vom Anfang des ersten Satzes leitet das Finale ein, pathetisch breit instrumentiert und den Streichern zuge wiesen. Aus den knappen, spannungsträchtigen Motiven des anschließenden Allegro molto entfaltet sich in den Violinen ein breitströmen des, gesangliches Thema, das bei seiner Wie derholung zum machtvollen, krönenden Schluß der Sinfonie führt. Diese Coda ist von uner bittlicher kämpferischer Entschlossenheit, von ungebrochener Kraft geprägt. Bezeichnenderweise ist das heroisch-tragische Pathos, die immer wieder durchbrechende trot zig männliche Haltung des Werkes als symbo lisches Bild von Finnlands Kampfbereitschaft gegen das Zarenregime gedeutet worden. Dr. Dieter Härtwig