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9. ZYKLUS-KONZERT Johannes Brahms Zoltän Kodäly Karol Szymanowski Festsaal des Kulturpalastes Dresden Sonnabend, den 18. Juni 1983, 20.00 Uhr Sonntag, den 19. Juni 1983, 20.00 Uhr ohilharmoni^ Dirigent: Martin Flämig Solisten: Jana Smitkova, CSSR, Sopran Istvän Gdti, Ungarische VR, Bariton Chor: Philharmonischer Chor Dresden Einstudierung Matthias Geissler Johannes Brahms 1833-1897 Ein deutsches Requiem nach Worten der Heiligen Schrift für Soli, Chor und Orchester op. 45 I. Chor: Selig sind, die da Leid tragen II. Chor: Denn alles Fleisch es ist wie Gra'^^ III. Baritonsolo und Chor: Herr, lehre doch mich IV. Chor: Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth! V. Sopransolo und Chor: Ihr habt nun Traurigkeit VI. Baritonsolo und Chor: Denn wir haben hie keine bleibende Statt VII. Chor: Selig sind die Toten ZUR EINFÜHRUNG Johannes Brahms hat sieben größere Chorwerke geschrieben, sämtlich auf der Hö he seiner Schaffenskraft. Zu Beginn steht E i n deutsches Requiem op. 45, 1866 vollendet auf Grund mehrjähriger Vorarbei ten. Dieses siebenteilige Werk ist dasjenige gewesen, das Brahms' Namen zuerst in alle Welt getragen hat und wohl auch jetzt noch seine Persönlichkeit am stärksten repräsen- ^Be genauere Betrachtung des „Deutschen Requiems" läßt erkennen, wie stark Brahms' Künstlertum aus seiner Zeit erwächst. Es gibt kaum ein Werk jener Jahre, das so Ausdruck seiner Epoche, der Hoffnungen und Sehnsüch te großer Teile des enttäuschten Bürgertums gewesen wäre. Zugleich sind manche persön liche und rein musikalische Anregungen in das Werk eingeflossen. So hängt der (wohl bedeutendste) 2. Satz (b-Moll) eng mit dem d-Moll-Klavierkonzert op. 15 zusammen, aus dem er in seiner Scherzo-Form 1857 ausge schieden war; zusammen mit dem Choral „Denn alles Fleisch es ist wie Gras" sollte er in einer Trauerkantate seinen Platz finden (1859). Auf die Schlußseite des ersten Heftes der „Magelonen"-Lieder schrieb Brahms 1861 den Bibeltext, den er im Requiem verwenden sollte; seitdem stand also der Plan fest vor ihm. Und doch hat erst der Tod der Mutter im Februar 1865 die Wiederaufnahme dieser Gedanken angeregt. Im August 1866 ist das Ganze bis auf den 5. Satz fertig, der im Mai 1868, nochmals die Erinnerung an die Mutter aufgreifend, in Hamburg vollendet wird. Nach verschiedenen Teilaufführungen in Wien und Ämen erfolgt die erste Gesamtaufführung W 18. Januar 1869 im Leipziger Gewandhaus unter Carl Reinecke. Von jeher wurde die Architektonik des Wer kes bewundert. Der F-Dur-Seligpreisung der Leidtragenden des 1. Satzes entspricht die Seligpreisung der Toten im letzten in der selben Tonart. Auch der 2. und 6., der 3. und 5. Satz sind im Aufbau korrespon dierend, so daß der Es-Dur-Chor „Wie lieblich sind deine Wohnungen" eine lieb liche Mittelstellung als typisches Intermezzo erhält. Aber diese formale Struktur ent spricht natürlich dem textlichen Vorwurf, der inneren Absicht des Werkes, dessen Worte Brahms aus der Bibel selbst zusammengestellt hatte. „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden": Das ist der Grundgedanke des ganzen Werkes, und wenn es am Schluß heißt „Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben", so ist das keine Ein segnung der Toten, sondern, schon durch die Aufnahme der Hauptmelodie des 1. Satzes, eine erneute Tröstung der Hinterbliebenen, in einem symbolischen Sinn, den Brahms in den „Ernsten Gesängen" nochmals verstärkt auf gegriffen hat. Brahms' „Deutsches Requiem" ist kein geistliches Werk, sondern ein großer Grabgesang des enttäuschten Bürgertums nach 1848; mit leidenschaftlicher Inbrunst singt der fünfunddreißigjährige Künstler hier sein Bekenntnis zur Welt, im Ton anknüpfend an Schütz’ „Musicalische Exequien" vom Jahre 1636, ja, an Händels „Trauer-Anthem" von 1737. Aber wir finden hier weder die unge heure Kraft der Wortausdeutung wie bei Mei ster Schütz noch einen Preisgesang auf den großen Menschen, wie ihn Händel zu einem prächtigen Werk gefaßter Trauer gestaltete, auch nicht die musikalische Transparenz des Mozartschen Requiems, das im lateinischen Text verharrt, aber die klassische Humanitäts symbolik in Nachfolge der „Zauberflöte" groß artig manifestiert, sondern ein Werk der Ele gie, mehr noch des Trostes, aus starker Resi gnation geboren, wenn auch nicht ohne freu dige Ausbrüche. In eigenartiger, aus der Entstehungsgeschichte des Werkes erklärbarer Verbindung eines in strumental-tänzerischen Gestus mit vokaler Choralintonation löst sich der (im 3 /4-Takt ste hende) Trauermarsch zunächst in ein hoff nungsvolleres Trio („So seid nun geduldig"), nach gesteigerter Wiederholung in eine stark von Händel inspirierte aufgelockerte B-Dur- Fuge, die im dreifachen Piano verklingt: „ewi ge Freude". Diesem großartigen Komplex kor respondiert deutlich der 6. Satz: „Denn wir haben hie keine bleibende Statt", wieder ein gedämpfter Marsch, weiter geführt vom Bari tonsolo, vom Schall der letzten Posaune über dröhnt — hier hören wir Händels „Messias", den Brahms so sehr schätzte. „Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg" wird zum dramatischen Höhepunkt des Werkes, so daß selbst die vierstimmig abschließende Fuge „Herr, du bist würdig zu nehmen Preis und Ehre und Macht" in ihrer nackten C-Dur-Herr lichkeit zurückstehen muß. Viel bewundert wurde der dritte d-Moll-Teil, mit dem Bariton solo „Herr, lehre doch mich" ebenfalls in lei sem Marschtempo beginnend, im Orchester und Chor sich bedeutsam motivisch ausbrei tend, im Bariton immer größere Ausdrucksin tensität erlangend, bis, nach der sich wunder bar entwickelnden Stelle „Ich hoffe auf dich", die Orgelpunkt-Fuge „Der gerechten Seelen sind in Gottes Hand" einsetzt, ein Beispiel großartiger Verknüpfung homophonen und po lyphonen Geistes, wie sie Brahms in Nachfolge Händels so häufig zur Verfügung steht. Weit sanfter ist das Sopransolo „Ihr habt nun Trau rigkeit" angelegt, im Kontext mit dem leise psalmodierenden Chor ein Höchstfall madri- galesker Textausdeutung bei Brahms, Schütz im Gewände des 19. Jahrhunderts, ganz ins Menschliche gewandelt. Man wird dabei die Beziehung zu Mozarts Konstanze-Arie „Trau rigkeit" (g-Moll) nicht überhören können; doch Ziel ist der Trostgesang, den, in unauf fälliger kunstvoller Kanonik, der Chor („Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter trö stet") anstimmt. Die echoartigen Wiederse hens- und Tröstungstöne des Schlusses er klingen in den beiden großen Rahmenchören wieder, die ohne Solisten auskommen, aber durch eine echte Brahms-Instrumentierung ei nen „gedockten" Stimmungszauber ohneglei chen ausüben. Im Anfangschor fehlen die Vio linen (wie in der A-Dur-Serenade); ungeheuer reich ist die Ausdrucksdifferenzierung vom Quasi-a-cappella bis zu emphatischer Orche sterbeteiligung, die sonst vor allem als beru higender Nachklang wirksam wird. Melodisch reicher blüht der Schlußchor auf, der einen freundlichen A-Dur-Satz einschließt, am Ende aber aufs nachdrücklichste in den Schluß des 1. Satzes mündet - die Bogenform ist voll endet. Der Ruhepunkt des Mittelsatzes (Es- Dur) erscheint vielleicht am meisten schulmä ßig, zu sehr 19. Jahrhundert, ist aber gerade durch seine Stellung, seine fast menuetthafte Haltung und seine malerischen Eigenschaften ein besonders glückliches Stück Brahmsscher Ökonomie, übrigens keineswegs ohne satz technische Kunststücke, die jedoch lediglich die gedanklich-emotionale Konsistenz des Stückes steigern wollen. Insgesamt ist Brahms' Requiem das wohl be deutendste Symbol seiner Zeitbeziehung. Kaum ein anderes Musikwerk hat so plastisch die Enttäuschung, die Hoffnung, den Trost gedanken des noch an die großen Ideale glaubenden Bürgertums der zweiten Hälftg des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck gebrach" wie diese reife Schöpfung, die auch uns noch durch die Höhe der ethischen Gesinnung, durch die Wahrheit des Wollens und die künstlerische Meisterschaft aufs tiefste be rührt. Die undogmatische Haltung des Wer kes (das z. B. den Namen Christi kein einzi ges Mal nennt) knüpft an Händel an, die Konzeption an Bachs „Actus tragicus" (Kan tate Nr. 106), der auch den Tröstungsgedan ken zum Ziel nimmt; Anregungen hat Brahms auch von Schumann erhalten, der, außer ei nem „Requiem für Mignon", in seinem Pro jektenbuch den Plan eines „Deutschen Re quiem" notiert hatte. Wesentlich ist die unver wechselbare Brahmssche Tönung, die in glei cher Weise aus der Zeit wie aus dem Bewußt sein einer großen musikalischen Vergangen heit und Verpflichtung erwuchs. Prof. Dr. Walter Siegmund-Schultze