Aus Richard Wagners Bericht über die Auf führung der 9. Sinfonie Beethovens 1846 in Dresden Für diesen Winter bestand mein Hauptunter nehmen in einer äußerst sorgfältig vorberei teten, im Frühjahr am Palmsonntage zu Stan de gebrachten Aufführung der neunten Sym phonie von Beethoven. Diese Aufführung brachte mir sonderbare Kämpfe, und für mei ne ganze weitere Entwickelung sehr einfluß reiche Erfahrungen ein. Die königliche Kapelle hatte jedes Jahr nur eine Gelegenheit, außer der Oper und Kirche sich selbstständig in einer großen Musikaufführung zu zeigen: zum Be sten des Pensionsfonds für ihre Wittwen und Waisen war das sogenannte alte Opernhaus am Palmsonntag zu einer großen, ursprünglich nur für Oratorien berechneten Aufführung ein geräumt. Um sie anziehender zu machen, wur de dem Oratorium schließlich immer eine Sym phonie beigegeben. Da wir beide Kapellmei ster (Reissiger und ich) uns die Abwechselung vorbehalten hatten, fiel für den Palmsonntag des Jahres 1846 mir die „Symphonie" zu. Eine große Sehnsucht erfaßte mich zur neunten Symphonie; für die Wahl derselben unter stützte mich der äußerliche Umstand, daß dies Werk in Dresden so gut wie unbekannt war. Als die Orchestervorsteher hiervon erfuhren, ergriff sie ein solcher Schreck, daß sie in einer Audienz an unseren Generaldirektor von Lüt tichau sich wandten, um diesen zu ersuchen, daß er mich von meinem Vorhaben abbringen möge. Als Gründe zu diesem Gesuch führten sie an, daß unter der Wahl dieser Symphonie der Pensionsfonds Schaden leiden würde, da dieses Werk hierorts in Verruf stehe, und je denfalls das Publikum vom Besuch des Kon zertes abhalten würde. Vor längeren Jahren (1838) war nämlich auch die neunte Sympho nie in einem Armen-Konzerte von Reissiger aufgeführt worden, und mit aufrichtiger Zu stimmung des Dirigenten vollkommen durch gefallen. In der That bedurfte es nun meines ganzen Feuers und aller erdenklichen Beredt- samkeit, um zunächst die Bedenken unseres Chefs zu überwinden. Mit den Orchestervor stehern konnte ich aber nicht anders als mich vorläufig vollständig zu Überwerfen, da ich hörte, daß sie die Stadt mit ihren Wehklagen über meinen Leichtsinn erfüllten. Um sie auch zugleich in ihrer Sorge zu beschämen, nahm ich mir vor, das Publikum auf die von mir durchgesetzte Aufführung und das Werk selbst in einer Weise vorzubereiten, daß wenigstens das erregte Aufsehen einen besonders star ken Besuch herbeiführen, und somit den be droht geglaubten Kassenerfolg in günstiger Weise sichern sollte. Zuerst entwarf ich nun in Form eines Program mes eine Anleitung zum gemüthlichen Ver- ständniß des Werkes. Außerdem benutzte ich in anonymer Weise den Dresdener Anzei ger, um durch allerhand kurzbündige und en thusiastische Ergüsse das Publikum auf das bis dahin in Dresden „verrufene" Werk an regend hinzuweisen. Meine Bemühungen, schon nach dieser äußerlichen Seite hin, glück ten so vollständig, daß die Einnahme nicht nur in diesem Jahre alle je zuvor gewonnenen übertraf, sondern auch die Orchestervorste^r die darauf folgenden Jahre meines Verl^^B bens in Dresden regelmäßig dazu benutzten; durch Wieder-Vorführung dieser Symphonie sich der gleichen hohen Einkünfte zu ver sichern. Was nun den künstlerischen Theil der Auffüh rung betraf, so arbeitete ich einer ausdrucks vollen Wiedergebung von Seiten des Orche sters dadurch vor, daß ich Alles, was zur dra stischen Deutlichkeit der Vortragsnüancen mich nöthig dünkte, in die Orchesterstimmen selbst aufzeichnete. Vom Beginne meines Unterneh mens an hatte ich sogleich erkannt, daß die Möglichkeit einer hinreißend populären Wir kung dieser Symphonie darauf beruhe, daß die Überwindung der außerordentlichen Schwierigkeiten des Vortrages der Chöre in idealem Sinne gelingen müsse. Ich erkannte, daß hier Anforderungen gestellt waren, welche nur durch eine große und enthusiasmirte Mas se von Sängern erfüllt werden konnten. Zu nächst galt es daher, mich eines vorzüglich starken Chores zu versichern; außer der ge wöhnlichen Verstärkung unseres Theaterchores durch die Dreissig’sche Singakademie, zog ich, mit Überwindung umständlicher Schwieriger ten, den Sängerchor der Kreuzschule mit nen tüchtigen Knabenstimmen, sowie ebenfalls gutgeübten Chor des Dresdener Se- minariums herbei. Diese, zu zahlreichen Übun gen oft vereinigten dreihundert Sänger, suchte ich nun auf die mir besonders eigenthümliche Weise in wahre Extase zu versetzen; es ge lang mir zum Beispiel den Bassisten zu be weisen, daß die berühmte Stelle: „Seid um schlungen Millionen", und namentlich das: „Brüder, über’m Sternenzelt muß ein guter Vater wohnen" auf gewöhnliche Weise gar nicht zu singen sei, sondern nur in höchster Entzückung gleichsam ausgerufen werden könne. 1983