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Vom Ursprung und Wesen des Musicals Um die Mitte der 50er Jahre tauchte auf den europäischen Bühnen eine neue Kunstgattung auf, der ein märchenhafter Ruf voranging, die aber keiner so recht einzuordnen wußte: das Musical. Der Ruf bestätigte sich, zur Freude des Publikums — und der Theaterintendanten: Stücke wie „Kiss Me Kate“, „Annie Get Your Gun" und „My Fair Lady“ erzielten auch hier zulande Rekord-Aufführungsziffern. Die Un sicherheit in der Definition und Klassifizierung des neuen Genres ist geblieben. Und weil nun niemand so recht zu sagen weiß, was eigentlich ein Musical ist, wird unter dieser Gummi-Fir- mierung alles mögliche angeboten. Wer heut zutage ein heiteres — oder heiter sein sollen des — Theaterstück schreibt, es der besseren Verkaufsmöglichkeiten wegen mit einer gängi gen, tanzbaren Musik versehen läßt, der nennt das einfach Musical. Einige Autoren, die sich vielleicht genierten, ihr Werkchen so einfach neben die „Lady" oder „West Side Story“ zu stellen, haben neue Wortmonstren erfunden wie „Musicalette", „Krimical" oder gar „Ope- rettical“. Was also ist ein Musical? Philologisch kann man der Sache nicht beikommen, denn der Be griff ist erst einmal nichts anderes als die wort faule Abkürzung für „musical play" oder „mu- sical comedy". Und danach wäre die „Komödie für Musik", die Hugo von Hofmannsthal für Richard Strauss geschrieben hat, auch ein Mu sical. Die Opernfreunde wehren entrüstet ab. Die Abwehr besteht zu Recht, ob aber auch die Entrüstung? Das Musical ist immer heutig, ohne Anspruch auf Ewigkeitswert, künstlerischer Aus druck eines Lebensgefühls, immer — auch im historischen Gewand — Auseinandersetzung mit der Welt, die nicht mehr die scheinbar heile Welt des „Rosenkavalier" ist. Sind wir aber nun schon weitergekommen mit unseren Definitionsversuchen? Man kann es sich so herrlich einfach machen wie der Autor und Produzent Oskar Hammerstein II: „Das Musical sollte alles sein, was es sein möchte. Wenn die Leute es nicht mögen, sollen sie nach Hause gehen. Nur eins kann das Musical nicht entbehren: Musik!!!" Noch einfacher freilich machen es sich die Leute, die streng zwischen E-Musik und U-Musik unterscheiden und das Musical kurzer hand unter der Rubrik U (U wie Ulk? U wie unseriös? U wie unterhaltsam?) ablegen. Motto: Was der Masse gefällt, kann keine große Kunst sein. Wer aber über den Rahmen eines Konzertes zum Jahreswechsel hinaus etwas mehr über dieses Genre wissen möchte, wem am Ver ständnis seines Wesens und seiner Eigentüm lichkeiten liegt, der sollte sich auch die Mühe machen, einiges über seine Geschichte und über die Besonderheiten seiner Entstehung zu erfahren. Wir können hier nur andeuten, quasi auf die Sprünge helfen. Das Musical ist das typische Produkt einer Stadt, der Stadt New York. Die im Jahre 1624 von 30 niederländischen Familien gegründete Ansiedlung wurde besonders im 19. Jahrhun dert zum „Schmelztiegel der Völker". Hier ließen sich Menschen aus aller Herren Länder nieder, ihrer Herren überdrüssig oder v^n ihren Herren vertrieben, von der Aureole „G^B und Freiheit" angelockt. Gold fanden cK wenigsten, die Freiheit war in den meisten Fällen nur die Freiheit, das heimatliche Elend umzuorganisieren. Sie alle aber — Italiener, Deutsche, Polen, Juden, Iren — brachten ihre Sitten und Gebräuche, ihre Lebensgewohn heiten und ihre Kultur mit. Einiges davon be wahrten sie über Generationen als Eigenstän digkeit (noch heute gibt es in New York ausge sprochen national betonte Viertel oder Straßen züge), vieles aber brachten sie ein in den großen Topf, aus dem schließlich eine neue, eine amerikanische Kultur, ein neuer „Way of Life" herauskochte. Analog zu dieser multinationalen Kultur und als ihr Kind hat auch das Musical Quellen, deren Ursprungsländer über die ganze Erde verteilt sind. Die wichtigsten (und nachweisbar sten), von denen jede besonderer Betrachtung wert wäre, seien hier zur Information (und als Anregung) genannt: — Die englische Balladenoper (mit „The Beg- gar's Opera" von Gay und Pepusch 1728 in die Musikgeschichte eingetreten, seit 1751 auch in Amerika zuhause) — Die Extravaganca (eine seit Mitte 19. Jahrhunderts spektakulär angericht^w Superschau mit melodramatischem Kern und eingefügten artistischen Attraktionen) — Die Burleske (mit eindeutigen Beziehungs punkten zu den Travestien der Alt-Wiener Volkskomödie) — Die Minstrel-Show (erster Zugang der Kunst amerikanischer Neger zur Bühne, aparter weise aber über Jahrzehnte nur von schwarz gefärbten Weißen zelebriert) — Das Vaudeville (eine Art Familien-Variete, das zum ersten Male dem Darsteller die Vielseitigkeit im Spielen, Singen, Tanzen, Sprechen abverlangte, wie wir sie heute vom Musical-Darsteller erwarten) — Die Operette (immerhin von Jacques Offen bach und Johann Strauß persönlich in Riesenkonzerten importiert, aber erst durch den Engländer Sullivan heimisch geworden) — Die Revue (mit amerikanischer Gigantoma nie die — auch finanziell — riesenhafte Übertragung der „Folies Bergere” an den Broadway, Geburtsstätte der „Girls“) — Der Jazz (in Rhythmik und Deklamations weise von uerhörtem Einfluß auf die neue Kunstgattung, im Wesen aber nie in ihr aufgegangen) Das sind acht — und dabei sicher nicht einmal — Quellen des Musicals. Wie aber daraus Musiktheater neuen Stils werden konnte, ist vielleicht noch am ehesten zu verstehen, wenn man sich anschaut, wie ein Musical ent steht. Drama, Oper und Operette sind Litera tur bzw. Musik zum Gebrauch im Theater, Mu sical ist Theater mit Hilfe von Literatur und Musik. Bei uns sah und sieht das so aus: Einer schreibt ein Libretto, der zweite die Musik dazu. (Nur in Ausnahmefällen gibt es die Gemeinschafts arbeit vom ersten Takt und Wort an.) Das Finalprodukt wird Theatern und Verlagen an geboten und — vielleicht — gespielt. Der häufig beschrittene Weg des Auftragswerkes sichert die ökonomische Basis der Autoren, nicht immer aber die künstlerische Qualität. Das amerikanische Theater ist ganz anders organisiert. Es gibt keine festen Ensembles, die beschäftigt werden müssen, keine Anrechtsbe sucher, denen man in treuer Regelmäßigkeit gut gemischte Kost vorsetzen muß. Wenn wir jetzt darzustellen versuchen, wie eine Musical-Aufführung am Broadway zustande kommt, muß das in schematisierender Verknap pung geschehen, das Spezifische im Typischen (uflösend. ■ Anfang ist der Produzent. Er ist der Vater es Unternehmens, im Erfolgsfalle auch der große Gewinner, beim Reinfall der Hauptleid tragende. Er muß erst einmal die Nase für das zu findende Sujet haben („Schlagt mal nach bei Shakespeare!"). Hat er den Stoff, von dem er meint, er könne das Publikum hochreißen, setzt er einen Autoren an das Textbuch, meist einen zweiten, spezialisierten, an die Songtexte und einen Komponisten an die Partitur. Während dieses Team arbeitet, teilt sich die Aufgabe des Produzenten in zwei Linien. Die erste, ein fachere, heißt: Ein Theater mieten mit allem dazugehörigen Personal, die Stars engagieren, die Darsteller der kleineren Rollen, den Chor, das Ballett, das Orchester, den Bühnenbildner, den Kostümbildner, den Regisseur, den Cho reographen — alles nur für die eine Produktion, für ein Stück. Die andere, weit schwierigere Arbeit des Produ zenten ist es, das benötigte Geld aufzutreiben. Und da geht es immerhin um Summen bis zu einer Million Dollar. Man kann da verschiedene Wege beschreiten: Man kann ein Konsortium von Mäzenen bilden, man kann die Rechte an dem noch längst nicht fertigen Stück an Rund funk-, Schallplatten- und Filmfirmen verkaufen. Es gab auch Fälle, da wurden Anteilscheine von 5 Dollar aufwärts an Interessenten, Musiklieb haber und Geschäftemacher losgeschlagen. Zwischen Proben und Premiere liegt dann noch ein ganz entscheidender Abschnitt: Das En semble geht „On the Road", d. h. es finden Voraufführungen in „kleineren" Städten wie Baltimore oder Philadelphia statt. Man will wissen, wie das Stück ankommt. Nicht selten werden dann noch ganze Akte und Musiknum mern umgeschrieben, ausgetauscht, verworfen, werden Stars durch andere ersetzt. George Gershwins Weltschlager „The Man I Love" wurde nach einer solchen Voraufführung als nicht wirksam aus dem Stück „Lady Be Good“ gestrichen. Die Entscheidung über Erfolg und Mißerfolg, für Stars und Geldgeber über Gewinn oder Verlust, für Chorsänger und Tänzer über den Arbeitsplatz für Jahre, fällt in der „First Night“, bei der Premiere am Broadway. Und diese Ent scheidung ist nicht mit dem letzten Vorhang ge fallen. Das Publikum mag sich reserviert ver halten oder vor Begeisterung gerast haben — wichtig sind die Morgenzeitungen, sind die Kritiker. Von ihrem Wohlwollen oder Mißfallen hängt es ab, ob ein Stück in der Versenkung verschwindet oder zum „Renner“ wird. „My Fair Lady“ wurde im Mark Hellinger Theatre en suite 2717 mal gespielt. Nun könnte man aus dieser apodiktischen Schil derung schließen, es sei gar nicht möglich, außerhalb der USA Musicals zu schaffen. Es ist nicht einfach, aber es ist nicht unmöglich. Bei spiele gibt es in einigen Ländern, glücklicher weise auch in der DDR. Denn wenn es auch nach wie vor keine stimmige Definition für die Kunstgattung gibt, haben sich doch einige Wesensmerkmale herauskristallisiert, die un abhängig von der Produktionsweise als Krite rien gelten können. 1. Das Musical behandelt einen Stoff, dessen Problematik — unabhängig von der historischen