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PROGRAM MEINFÜHRUNG den großartigsten Bachschen Orgelstücken gehört die Passacaglia c-moll, die Johann Seba stian Bach in Göthen kurz vorder Übersiedlung nach Leipzig geschaffen hat. Unter einer Passacaglia ver steht man, von dem ursprünglichen Wortsinn, der einen alten spanischen Tanz bezeichnete, absehend, ein Tonstück, das auf einem regelmäßig wieder kehrenden Baßthema aufgebaut ist. Das gleiche Fundament also, auf dem immer wieder ein neues Gebäude errichtet wird. Der ästhetische Reiz dieser Form beruht darin, zu sehen, wie die Fantasie des Komponisten, die an sich durch das Thema gefesselt ist, dieser Fesseln spottet und immer neue Varia tionen erfindet. Das Bachsche Thema ist acht- taktig und von einer edlen Einfachheit, leicht zu merken (und daher leicht zu „verfolgen"), in der Linie zuerst ansteigend, dann abfallend bis zum Grundton. Zwanzig Variationen sind es, gewaltig sich steigernd bis zum Höhepunkt der n. und 12. Variation und wieder zur dramatischen Ent ladung drängend: sie tritt mit der angehängten Fuge ein, die mit der Wendung nach C-dur einen geradezu sinfonischen Zug in das Werk bringt. So bildet es den rechten Auftakt zu der Wiedergabe der neun Sinfonien Anton Bruckners. Als dieser, im Jahre 1856, 31 Jahre alt, nach 10 Jahren Auf enthalt in St. Florian (es sind jetzt gerade 100 Jahre, daß er Stiftsorganist im Chorherrenstift wurde), als Domorganist nach Linz berufen wurde, war er sich seiner hohen Berufung noch nicht bewußt. Was er bis dahin komponiert hatte, war erst Vorbereitung, war Schularbeit, war Tasten und Suchen und zeigte nur gelegentlich Ansätze zur eigenen Note. Und es schien, als schrecke der junge Komponist ängstlich zurück, mit solchen großen Schritten voran zukommen, lieber verfiel er, der allzu bescheiden lernen und nichts als lernen wollte, wieder in den vor sichtigen Schülerschritt. Das war zunächst auch in Linz so, wo er ja nun endlich den rechten Lehrer gefunden hatte, den berühmten „Fugenschmied“ Simon Fechter, bei dem er mit solchem Fanatismus in die Schule ging, daß der ihn mahnen mußte, „sich mehr zu schonen und sich die nötige Ruhe zu gönnen“. Er predigte tauben Ohren. Bruckner lernte und ließ sich prüfen, immer und immer wieder, und nicht nur bei Fechter. In Otto Kitzler, dem aus Dresden stammenden Theaterkapell meister, fand er den Führer zu Richard Wagner, der ihm die „Tannhäuser“-Partitur zum Studium vor setzte, und der ihn mit einer „Tannhäuser"-Auf- führung im Februar 1836 völlig verzauberte. Und nun geschah das Wunder von Linz. Wie ein mühsam gebändigter Fluß, wenn das Stauwehr gebrochen ist, mit um so größerer Gewalt, mit um so größerer Wild heit davonstürmt, so machte sich jetzt die lange aufgespeicherte schöpferische Urkraft in Bruckner Bahn, alle Dämme niederreißend, und es entstanden die beiden ersten vollgültigen Werke, die beiden ersten, die Bruckner selbst als seiner würdig be zeichnete: die Messe in d-moll für Soli, Chor und großes Orchester, und die erste Sinfonie in c-moll. Es ist wie ein Wunder, ein Schöpfungs wunder, daß gleich diese erste den Typ der Bruckner- schen Sinfouie in letzter Vollendung ausprägt. Vierzig Jahre hatte Bruckner gewartet, bis er die Feder an setzte zu diesem Werk. Was an Sinfonischem vorher geschaffen war, zählte nicht. Nicht die f-moll Sinfonie, die als unmittelbare Frucht der Studien bei Kitzler von ihrem Schöpfer selbst als „Schul arbeit" bezeichnet wurde, nicht die in d-moll, aus den Jahren 1863/64, die Bruckner trotz bedeutender Gedanken später als „ungültig", als „nur ein Ver such" ablehnte und deshalb als die „Nullte“ in sein Gesamtschaffen einreihte. Nun aber kommt die c-moll-Sinfonie und braust wie ein Gewittersturm ins Land — er weiß es wohl, der junge Meister, was er damit tut: „So kühn und keck bin ich nie mehr gewesen, . . . der ganzen Welt warf ich den Fehdehandschuh hin, so habe ich nie mehr komponiert“. Mit diesem Werk hat Bruckner, so hat es Stradal trefflich formuliert, „den Speer weiter in die Zukunft" geworfen als selbst Wagner“. Im ersten Satz erleben wir die neue, die Brucknersche Sonatenhauptsatz-Form, die die bisher nur gelegent lieh angewandte Themen-Trinität an Stelle des klas sischen Themen-Dualismus zur Regel macht, wobei man die'Brucknerschen Themen als Themengruppe, also als etwas Zusammengesetztes, auffassen muß. Die drei Themen der ersten Sinfonie, das über den pochenden tiefen Streichern in den ersten Violinen einsetzende Hauptthema, das als Duett der beiden Violinen beginnende warmblütige Gesangsthema und das dritte, in den Posaunen erklingende „Monu mentalthema“ (so möchte ich es als Typ bezeichnen) — bilden gewissermaßen das Schema aller späteren Sinfoniethemen, die nur die Variationen dieser ersten zu sein scheinen. Im zweiten Satz kündigt sich der Meister der betenden Adagios an, das Scherzo ist, wie später so oft, ausgegangen vom bäuerischen Tanzboden, greift aber schon hinüber ins Reich der Gespenster und Dämonen, das Finale geht auf den ersten Satz zurück — auch das ein typisch Brucknerscher Sinfoniezug, der sich wieder holen wird. Die erste Sinfonie wurde im Mai 1868 in Linz unter Leitung des Komponisten uraufgeführt und hatte einen gewissen äußeren Erfolg. Daß mit ihm ein neuer sinfonischer Tag angebrochen war, hatte niemand erkannt. Dr. Karl Laux