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ROBERT SCHUMANN Die letzten vier Jahre haben den Namen Robert Schumanns mehrfach in das Blick feld der Öffentlichkeit gerückt. Gedachten wir 1956 in einer Vielzahl von Veranstal tungen in unserer Republik und den uns befreundeten Nationen seines einhundert sten Todestages, so hat das Jahr 1960 aus Anlaß der einhundertfünfzigsten Wieder kehr seines Geburtstages (8. Juni 1810) erneut sein Werk in den Vordergrund treten lassen. Das Werk allerdings nicht nur des Komponisten, sondern auch des Musik schriftstellers Robert Schumann, der als aufrechter Kämpfer für das Echt-Progressive seiner Zeit die Feder meisterlich zu führen wußte. Welche Aufgaben er sich beispielsweise mit seiner 1834 ins Leben gerufenen ,,Neuen Zeitschrift für Musik“ stellte, belegen seine Sätze in ,,Meister Raros, Florestans und Eusebius’ Denk- und Dichtbüchlein“: „Eine Zeitschrift soll nicht bloß die Gegen wart abspiegeln; der sinkenden muß die Kritik vorauseilen und sie gleichsam aus der Zukunft zurückbekämpfen.“ — Welche Nähe zu Marx’ Forderung, nicht nur zu interpretieren, sondern zu verändern! Das Erscheinungsjahr der ersten Nummer der Schumannschen Zeitschrift ist auch das Entstehungsjahr der Sinfonischen Etüden für Klavier op. 13, die Schumann seinem Freunde William Sterndale Bennett in London widmete. Dieses Werk—Schumanns Kompositionen von op. 1 bis op. 23 sind ausnahmslos Werke für Klavier! — charak terisiert ein auffallender Abstand zu den vorhergehenden nach der Seite des Gehalts wie der technischen Anforderungen und gehört zu den von den Pianisten bevorzugten Werken des Meisters. Eine stark orchestrale Anlage dieser Klavierkomposition ist nicht zu übersehen. Sie erklärt sich durch den ursprünglich geplanten Titel „Etüden im Orchestercharakter von Florestan und Eusebius“, jenen zwei Schumannschen Phantasiegestalten aus den Davidsbündlern, die im musikalischen wie im schriftstellerischen Werk ihres Schöp fers so häufig in Erscheinung treten und, die eine männlich-vorwärtsdrängend, die andere weiblich-versonnen, die zwei entgegengesetzten Seiten in Schumanns Wesen charakterisieren. Und diese beiden Seiten sind auch in den Sinfonischen Etüden nicht zu überhören. Das Thema („de la Composition d’un Amateur“) stammt vom Vater der Ernestine von Fricken, um die, kurze Zeit Schülerin Friedrich Wiecks, sich streckenlang Schumanns ganzes Trachten und Sinnen bewegte. Schumann wandelt es — und das ist für ihn kennzeichnend — in den einzelnen Varia tionen nicht durchgehend in seiner ganzen Gestalt ab. Er wertet einzelne charakteri stische Bestandteile aus, sie etwa rhythmisch, melodisch oder harmonisch verändernd und auf diese Art Entstandenes in sich weiterentwickelnd, ohne eben am „Faden“ der ursprünglichen Themengestalt zu bleiben. Ein aus dem Jahre 1838 belegter Aus spruch Schumanns: „An Form denke ich nicht mehr beim Komponieren, ich mach’s eben“ soll alles andere denn von einem Bekenntnis zur Formlosigkeit zeugen. Jede einzelne Variation — und alle bewegen sich im Rahmen von Fantasiestücken mit Programmcharakter — ist in sich geschlossen und formvollendet, gleich, ob sie nun an die Stelle der lapidaren Akkordfolgen des Themenkopfes häkelige Kleinrhythmik setzt oder über dem im Baß breit ausgesponnenen Thema virtuose Akkordbrechungen ablaufen läßt, gleich, ob sie sich der akkordisch angereicherten kanonischen Form bedient, Themenbruchstücke pianistisch — bravourös übersteigert, sich im gemesse nen Charakter einer französischen Ouvertüre bewegt oder — wie im Finale — gar in die Bezirke der Oper greift, wenn zu Ehren des Freundes Bennett die Ivanhoe- Romanze Marschners zitiert wird: überall eine reiche Fülle von Einfällen und eine Aussagedichte, die die Bevorzugung dieses Werkes rechtfertigt. Die beiden anderen Kompositionen, das Streichquartett op. 41 Nr. 3 und das Klavierquintett op. 44, gehören dem für Schumanns Kammermusikschaffen so ergiebigen Jahr 1844 an, in dem neben den Quartetten op. 41 Nr. 1 und 2 noch das Klavierquartett op. 47 entstand. Den ersten Satz des A-Dur-Quartetts zeichnet eine wahrhaft klassische Geschlossenheit aus, gegeben durch knapp umrissene Themen und eine sehr gestraffte Durchführung, die kein jenseits der Themen gelegenes Material heranzieht. Der zweite Satz, sich wiederum der Variationsform bedienend, greift in seinen Mitteln nun etwas weiter aus, macht das zu Anfang von 2 zu 2 Takten durch Pausen unterbrochene Thema in fortlaufender Bewegung geschmeidig, wechselt die Takt art, bezieht kanonartiges Wechselspiel zwischen erster Violine und Bratsche ein, holt im Schlußteil in den Intervallen sehr weit aus, ist harmonisch denkbar farbig und rhythmisch fesselnd. Den dritten Satz bestimmen sowohl edle gesangliche Linien als auch ein hartnäckig bohrendes rhythmisches Motiv der 2. Violine (gegen Ende auch der Viola). Er bewegt sich zwischen vollendeter Schönheit und auswegloser Trauer: recht ein Spiegelbild des Schumannschen Wesens, das ergänzt wird durch das Finale in Rondo form mit seinem zufassenden, in punktierten Rhythmen die Freude am Dasein bejahenden ersten Thema, dem sich Zwischenglieder unterschiedlichen Charakters (hurtige Achtelbewegung, pochende Trioien, anmutiges, tänzerisch-gezügeltes „Quasi-Trio“) beigesellen und das in einen grandiosen Schluß mündet. Das Es-Dur-Klavierquintett endlich, ein von jeher gern gespieltes und — ob der Einprägsamkeit seines Themenvorrats — bevorzugt gehörtes Werk, fesselt gleich zu Beginn des ersten Satzes durch das stolz aufwärtsstrebende Thema, dem Schumann im weiteren Verlauf manch neue Seite abzugewinnen weiß. Das lyrische zweite Thema (die Viola antwortet dem Violoncello sofort in der Umkehrung) bringt den notwendigen Gegensatz. Die Durchführung benutzt im wesentlichen Bestandteile des ersten Themas, und nach der Reprise schließt eine Coda den Satz im Sinne seines Anfangs ab. Im Charakter eines Trauermarsches beginnt der zweite Satz, dessen aufgehellter Mittelteil durch Polyrhythmik besonders reizvoll wird. Ein rhythmisch scharf pro filiertes „Quasi-Trio“ mit rastloser Trioienbewegung im Klavier leitet über zur Wiederaufnahme des Hauptsatzes in variierter Form. Das Dunkle dieses Satzes macht das nachfolgende Scherzo wieder vergessen: vitale Kraft geht aus von den es eröffnenden quasi gehämmerten Tonleitern, bemerkens werte Kontraste schaffen die beiden Triosätze, gesangvoll der erste, der zweite in ruheloser Sechzehntelbewegung und durch auseinanderliegende Tonalitätsbereiche geisternd, bis er, in sich zurücksinkend, die Wiederkehr des kernigen Hauptsatzes herbeiführt. Das Finale endlich offenbart Schumanns Meisterschaft in vollem Lichte. Zwingend entwickelt er Themenbestandteile zu scheinbar Neuem, reichert es durch Kontra punkte an, kombiniert Themen und läßt das Ganze gipfeln in einem Doppelfugato, das dem Hauptthema des Finales das des ersten Satzes in der Vergrößerung beigesellt und so den Bogen zurückschlägt zum grandiosen Anfang des Quintetts. Gerade die drei gewichtigen Werke dieses Abends mögen einmal mehr davon zeugen — was wahrlich noch nicht Allgemeingut ist—, daß wir in Schumann alles andere zu sehen haben als den weltabgewandten Romantiker. Sein Werk und das, was er über Musik zu sagen hatte, weisen in die Zukunft. Von ihm ging Befruchtendes und nach haltig Wirkendes in alle Welt, die sein Wort richtig zu deuten wußte: „Die Gesetze der Moral sind auch die der Kunst.“ Walter Bänsch Literaturhinweise: Bücken: Eismann: Robert Schumann, Robert Schumann, Robert Schumann, Leipzig 1941 Leipzig 1955 Festschrift 1956 Vorankündigung: Sonntag, 23. Oktober 1960, 11 Uhr, Konzert mit dem Deutschen Fernsehfunk i » 1. Kammermusikabend Anrecht D 1960/61 6164 Ra III-9-5 960 0,5 It G 009/60/64