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KONGRESS-SAAL DEUTSCHES H Y G I E N E - M U S E U M Sonnabend, 22. Oktober 1960, 19.30 Uhr Sonntag, 23. Oktober 1960, 19.30 Uhr 2. Philharmonisches Konzert DIRIGENT Prof. Heinz Bongartz SOLIST Prof. Wladyslaw Kedra, Warschau Maurice Ravel 1875—1937 Mutter Gans (5 Kinderstücke) Erstaufführung Tanz der Schönen im schlafenden Wald Der kleine Däumling Die häßliche Kaiserin der Pagoden Die Unterhaltung zwischen der Schönen und der Häßlichen Der feenhafte Garten Bela Bartok 1881—1945 Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 Allegretto Adagio religioso Allegro vivace PAUSE Jean Sibelius 1865—1957 2. Sinfonie D-Dur, op. 43 Allegretto Andante, ma rubato Vivacissimo Allegro moderato Prof. Wladyslaw Kedra, Warschau ZUR EINFÜHRUNG Maurice Ravel verbindet die verschiedenartigsten, eigentlich auseinandergehenden Details zur Einheit seiner Musik: Die Pentatonik (= Fünftonreihe, beispielsweise c-d-e-g-a), die Ganztonleiter (c-d-e-fis-gis-ais) über den Dreiklang (c-e-g) bis zu den Nonen - (Dreiklang mit 7 und 9), Undezimen - (Dreiklang mit 7, 9 und 11) und Tredezimenklängen (Dreiklang mit 7, 9, 11 und 13), zu denen sich noch die Kir chentonarten (dorisch, phrygisch, lydisch) gesellen, die oft nur als Ausschnitte erklingen, ohne aufgelöst zu werden. Höchste prägnante rhythmische und metrische Präzision wechselt ab mit geheimnisvoll-taktverschleierndem Rhythmus. Nimmt man dazu, daß Ravel im Orchester die weichen Holzbläser (und das Horn!) gegenüber den Blechbläsern bevorzugt, daß Ravel gleich Debussy dem Grundsatz huldigt, das Orchester habe stets ,,lyrisch zu bleiben“, vor lauter Dramatik dürfe die Lyrik im Orchester nicht untergehen, dann haben wir etwas von den äußeren technischen Mitteln, die Ravel zum Impressionisten in des Wortes ausschließlicher Bedeutung, zum ,,Todfeind alles dynamischen Wesens der Musik“, zum Künstler musikalischer Stimmung stempeln. Man muß den alten französischen Märchensammler Charles Perrault (1628—1703) und seine „Contes de ma mere l’Oye“ (Erzählungen der Mutter Gans} kennen, um hinter die quasi-primitiven Schönheiten des Ravelschen Märchenballetts zu kommen. „Ma Mere l’Oye, Kinderstücke für Klavier zu vier Händen, sind datiert von 1908“, sagt Ravel in seiner Biographischen Skizze, „und haben die Absicht, die Poesie der Kindheit wachzurufen. Sie haben mich dazu geführt, meine Manier zu vereinfachen und meine Schreibweise durchsichtiger zu machen. Ich habe aus diesem Werk ein Ballett geschaffen, das vom Theätre des Arts einstudiert wurde. Das Werk wurde in Valvins für meine jungen Freunde Mimie und Jean Godebski geschrieben.“ In dem kindlichen Königreich der „Damen“ d’Aulnoy und Leprince de Beaumont hat sich Ravel zeitlebens ebensowohl gefühlt wie die wirklichen französischen Kinder, die das Märchen herzinnig lieben. Im Vollbesitz seiner künstlerischen Fähigkeiten (1908) sammelt sich hier der Meister einen Augenblick abseits des raffinierten Könnens seines sonstigen Schaffens. Ravel weiß, daß man zum Einfachen nur auf dem Wege über das Komplizierte gelangt. — Zur Erläuterung stehen in der Partitur einige Hinweise für das Ballett oder erklärende Märchenworte: Zu 2 (Der kleine Däumling): ,,Er glaubte seinen Weg leicht zu finden durch das Brot, das er überall ausgestreut hatte. Er wurde aber sehr überrascht, als er von seinem Brot nicht ein einziges Krümchen wiederfand. Die Vögel waren gekommen und hatten alles aufgefressen!“ Zu 3 (Die häßliche Kaiserin der Pagoden): „Sie entkleidet sich und begibt sich ins Bad. Pagoden und Pagodinnen beginnen sogleich zu singen und ihre Instrumente zu spielen. Einige haben Lauten, die aus Nußschalen, andere haben Violen, die aus Liebesmuscheln gemacht sind. . .“ Zu 4 (Unterhaltung zwischen der Schönen und der Häßlichen): „Wenn ich an Ihr gutes Herz denke, erscheinen Sie mir gar nicht mehr häßlich!“ — ,,O gewiß, ich habe ein gutes Herz! Ich bin aber eben doch eine Mißgestalt.“ — „Es