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Große Kunst der kleinen Körnt Mit dem Namen unserer bekannten Komponisten sind ganz bestimmte Werke verknüpft, die sich der besonderen Gunst aller Hörer erfreuen. Gewiß, es ist eine große Auszeichnung für den Komponisten, wenn einzelne seiner Werke im Volk so nachhaltigen Widerhall finden, daß sie den Beiklang des Volks tümlichen erhalten. Doch eng daneben liegt auch ein Gefahrenpunkt ver borgen; daß nämlich dadurch andere Werke ins Hintertreffen geraten, daß sie also von den vom Volke ausgezeichneten Schöpfungen ungerecht beschattet werden und dadurch sogar in Vergessenheit geraten können. Wir alle kennen die Vorliebe breiter Hörerschichten für Beethovens 3., 5., 7. und 9. Sinfonie, für die Egmont-Ouvertüre und das Violinkonzert. Dabei werden leicht die anderen Sinfonien beiseite gedrängt. Es ist kein Geheimnis, daß Beethovens 1., 2., 4. und 8. Sinfonie weit weniger die Programme unserer Sinfoniekonzerte zieren als die „populären“ mit der ungeraden Zahl. Hier gilt es nicht nur gerecht zu sein, hier gilt es auch, vieles wieder gut zumachen. Die Romanzen für Violine von Beethoven verdienen es ganz ein fach nicht, einseitig zu Unterrichts- und Übungsmusiken abgestempelt zu werden, und auch die Serenaden von Johannes Brahms sind weit mehr als nur Gelegenheitswerke, die allenfalls einmal in einem Serenadenkonzert erklingen. In den so oft verachteten „kleinen“ Formen offenbart sich die Eigenart des Komponisten oft noch deutlicher und bezeichnender als in den monumentalen Großformen. Die Kleinformen fordern von uns, den Konzertbesuchern, ein intensives, verschärftes, anteilnehmendes und vor allem verfeinertes Floren, das uns in vielen Fällen musikalische, technische und ausdrucksmäßige Details erkennen läßt, die wir vorher übersahen. Auch die kleinen Formen, die ersten tastenden Orchesterwerke und die sinfonischen Auftakte mit der Nummer „Eins“ gehören zum Gesamtbild eines Komponisten. Hören wir so, geistig wach, kritisch und umfassend zugleich, werden wir beglückt erleben, wie sich auch im Kleinen das Große ausspricht. Die Serenade für kleines Orchester in A-l)ur, op. 10, von Johannes Brahms wurde im Oktober 1858 in Detmold entworfen. Dort arbeitete der Komponist auch im folgenden Jahr daran, und 1860 wurde das Werk dann in Bonn voll endet, darum von Brahms auch einmal als „Bonner Serenade“ bezeichnet. Die ersten Aufführungen fanden 1860 in Hamburg und Leipzig unter der Leitung des Komponisten statt. Die Arbeit an der A-Dur-Serenade muß Brahms große Freude gemacht haben, denn er fertigte auch eine Ausgabe für Klavier zu vier Händen an und schrieb darüber an seinen Freund Joseph Joachim: „ —mir war ganz wonnig lich zumute!“ An sich war die Zeit für Serenaden, Divertimenti und Kassationen vorbei, doch Brahms’ Vorliebo und seine echte Verehrung für das Alte ließ ihn den Versuch wagen, diese Form zu erneuern, mit seinen ihm eigenen Mitteln zu