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Z U R E N F D H R U N G Bela Bartök (1881—1945) komponierte das Con certo für Orchester in den Jahren 1943/44 in Ame rika. Er widmete es dem Dirigenten Koussewitzky, der es am 1. Dezember 1944 in New York mit dem Bostoner Sinfonieorchester uraufführte. Das Werk besteht aus fünf Sätzen, die sehr brillant und virtuos geschrieben sind und an das Orchester einige An forderungen stellen. Der erste Satz (Introduktion) stellt eine Einleitung zu dem musikalischen Ge schehen dar; das Thema steigt in Quartschritten hinauf und hinab und gibt einen dunklen Grund. Der zweite Teil dieser Introduktion ist ein lebhafter Satz, der in den Blechbläserstellen eine Hindemith- sche Färbung annimmt. Im zweiten Satz, der sehr lustig und von einer beinahe grotesken Heiterkeit ist, wird zu Beginn das Thema über Trommel rhythmen von zwei Fagotten geblasen, das vor allem die Holzbläser aufgreifen und verarbeiten. Der dritte Satz hat den Untertitel „Elegia“, womit der Inhalt angedeutet wird. Hier beschwört Bartök impressionistische Klänge, die mit rauschenden Harfenglissandis verbrämt werden. Auch im vierten Satz entfaltet Bartök einen phantastischen Humor, der manchmal sarkastische Züge annimjnt. Der Finalsatzisteine Huldigung an seine HeimarUngarn, die er aus dem Exil Amerika mit diesem Satze grüßt. Wilde Tänze klingen auf, eine Fuge ist in diesen Satz eingestreut, eine faszinierende Hora, ein Rundtanz aus dem Karpathengebiet, beendet dieses hinreißende Werk. Bartök war in dem letzten Lebensjahre vor seinem frühen Tode 1945 auf der Höhe seines Könnens. Er schreibt noch das dritte Klavierkonzert, um dann zu sterben. Die amerikanischen Kollegen bezahlen sein Begräb nis, weil Bartök keinen Pfennig hinterlassen hat. Er war arm geworden im Exil, arm geworden in Amerika, weil dort, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, niemand verstand, daß Bartök ein Genie war. Peter Iljitsch Tschai kowski j (1840—1893) schrieb sein Violinkonzert D-Dur, op. 35, im Jahre 1878. Auch aus diesem Werke spricht der echte Tschai- kowskij, der trotz aller Liebe für die Musik West europas überall das ursprünglich Russische heraus schauen läßt. Neben einer über allem liegenden Melancholie, die auf seinen Lebensumständen be ruhen mag, steht eine zarte Grazie, die oft um schlägt in Lustigkeit und derben Taumel. Vor allem in den Schlußsätzen seiner Sinfonien und Konzerte greift er auf russische Melodien aus dem Volke zu rück, läßt er Rhythmen russischer Tänze erklingen, spricht er die Sehnsucht des russischen Menschen und die Weite der Landschaft Rußlands aus. Im Violinkonzert bedenkt er das Soloinstrument reich mit jenen Eigenheiten, die es im besonderen aus zeichnen können: mit dem Vermögen, zu singen und der Eignung zur virtuosen Brillanz. Es gab eine Zeit, da dieses Werk wegen seiner besonderen Ansprüche nur wenigen großen Geigern von Format zur Ver fügung stand. Das ist auch heute noch so, obgleich die virtuose Technik mehr Geigern zu Gebote steht als vor 60 bis 70 Jahren. Um das Werk restlos aus zuschöpfen, bedarf es neben einer geistigen Reife auch des Einfühlungsvermögens in die russische Psyche. Dann erst offenbart es die Fülle seiner Schönheiten, den Reichtum an herrlicher Musik. Die 4. Sinfonie in e-Moll von Johannes Brahms (1833—1897) ist als einer der Höhepunkte in seinem Schaffen anzusehen. Brahms war in den Jahren des Entstehens dieses Werkes (1884—1886) auf der Höhe seiner Meisterschaft angelangt. Seit je liebte er das Spiel mit musikalischen Formen, wohl aus dem Ge fühl heraus, sich innerhalb des allgemeinen Form zerfalls der Romantik zu sichern. Brahms stellte sich beim Schaffen der 4. Sinfonie selbst ein Problem, das der strengsten Formgebundenheit, um aber gerade dadurch im Schöpferischen eine große Freiheit zu gewinnen. Es ist unmöglich, die Fülle satztechnischer Einzelheiten aufzuzählen, die buchstäblich vom ersten bis zum letzten Takt dieses großen, schwer blütigen Werkes festzustellen sind. Die Kenner stehen mit Staunen vor dieser Kunst, vor dieser Meisterschaft des Handwerklichen, vor diesem Wissen um die Geheimnisse des Schaffens. Aber man merkt der Musik nicht an, daß sie so viel Zucht und . Überlsgung, so viel Kunstreichtum und aus dem Nachdenken Entstandenes enthält. Denn trotz des stark reflektierenden Einschlages macht sie den Ein druck eines geschlossenen Ganzen, ruft sie die Wir kung eines Organismus hervor. Freilich wirkte sie. nicht sofort so auf die Zeitgenossen und Freunde des Meisters. Der ihm sehr zugetane berühmte Musik kritiker Hanslick sagte nach dem ersten Anhören, er habe den ganzen Satz über die Empfindung ge habt, als ob er von zwei schrecklich geistreichen Leuten durchgeprügelt würde. (Woraus man ersehen kann, daß sich sogar Kritiker im ersten Augenblick irren können.) Im ersten Satz verarbeitet Brahms mit größter Kunst zwei Themen. Die Sinfonie beginnt sofort mit jdem ersten, weitgespannten Thema. Demgegenüber ist das zweite sehr kurz, es ist den Holzbläsern und Hörnern übergeben und spielt in der gesamten Ver arbeitung und Durchführung nicht die Rolle wie das wichtigere erste Thema. Der zweite Satz erblüht in einer Fülle melodischer Schönheiten (Klarinetten gesang, Violoncelli), die aber eine gewisse Melan cholie nicht bannen können. Das Scherzo ist dem gegenüber sehr derb und energisch, ja beinahe wild. Brahms schreibt zwar giocoso (fröhlich, heiter) drüber — aber es ist die etwas schreckliche, bär beißige Heiterkeit eines grimmigen Alten. Der vierte Satz ist zunächst ein technisches Kunststück. Als Chaconne aufgebaut, hört man 32 mal das Thema, aber immer verändert, mit einer solchen Kunst der Variation ausgestattet, daß nicht einen Augenblick lang irgendwelche Langeweile auftritt. Zugleich ist aber dieser Satz auch von einer solchen geistigen Konzentration, daß Ehrfurcht und Staunen erweckt werden vor dem Höhenflug, zu dem menschlicher Geist fähig ist. Dieser Satz ist nicht nur in Brahm sens Schaffen, sondern im menschlichen Schaffen überhaupt ein Höhepunkt. Joh. Paul Thilman