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legte, sei mit seinen eigenen Worten bezeugt: „Ich bin halt kein Liebhaber von den erschrecklichen Geschwindigkeiten, wo man nur kaum mit dem halben Tone der Violine alles herausbringen und sozusagen mit dem Bogen kaum die Geige berühren und fast in den Lüften spielen muß.“ — Freuen wir uns an dem Duft und der Anmut tiefempfundener Melodien dieses Konzertes, ebenso wie an der beglückenden Ein heit von klassischem Wollen und Können, die sich auch in der meisterhaften Form gebung der Ecksätze offenbart. Während die Taten des Genius Mozart Fürsten und Adel Europas, von seinem Vater Leopold gemeinhin „Noblesse“ genannt, von frühester Kindheit an in Erstaunen setzen, verlaufen die ersten drei Jahrzehnte Anton Bruckners abseits vom großen Strome des Weltgeschehens. Der Schulgehilfe aus den Dörfern im Umkreis des Chorherrenstiftes St. Florian muß nicht nur Schule halten, Orgel spielen, die Glocke läuten, sondern auch Heuwenden, Kartoffelausmachen und Mistladen gehören zu seinem harten Dienst. Kaum bleibt dem stetig Lernenden und Übenden die Zeit, sich in den nahegelegenen Musikstädten Steyr und Enns weiterzubilden. Lange schwankt der inzwischen zum Hauptlehrer beförderte Bruckner, der sich immer wieder seine Fortschritte im Orgelspiel und Improvisieren durch Zeugnisse bestäti gen läßt, ob er sich ganz der Musik verschreiben soll. Der Sieg im Prüfungsspiel über drei Konkurrenten um die Stellung des Domorganisten in Linz gibt Bruckner end lich den Mut, sich nur noch der Musik zu widmen. — Wieder folgen Jahre unermüd lich fleißigen Lernens. Der berühmte, als streng bekannte Wiener Kompositions lehrer Simon Sechter, der Bruckner bis zum Jahre 1861 die „Grundsätze der Kom position“ vermittelt, muß seinen übereifrigen Schüler ermahnen, sich doch mehr Ruhe und Schonung zu gönnen. So erreicht Anton Bruckner fast das 40. Lebensjahr, als seine erste große Schaffensperiode beginnt. In den Jahren 1863/64 komponierte er außer seiner großen Messe in d-Moll eine Sinfonie in der gleichen Tonart, die er in übergroßer Bescheidenheit später als „ungültigen Versuch“ ablehnte und sie deshalb als die „Nullte“ in sein Gesamtwerk einreihte. Was drängt nun den so spät zur Reife gelangten Linzer Domorganisten an Stelle der „Musica sacra“ sinfonische Werke für großes Orchester, die sich an die profane Welt außerhalb der Kirchenmauern wenden, zu schreiben? Ein Sachse, der um zehn Jahre jüngere, aus Dresden stammende Theaterkapell meister Otto Kitzler gab hierzu den entscheidenden Anstoß. Er macht den lern begierigen Bruckner mit der klassischen Sinfonie, mit dem Orchester vertraut, studiert mit ihm die Partituren der Sinfonien Beethovens und verwendet als Anschauungsmittel die „Tannhäuser“-Partitur von Richard Wagner. Bruckner hört diese Oper unter der Leitung von Kitzler in Linz. Die Wirkung ist ungeheuer, ein wahrer Schaffensrausch Bruckners ist die Folge. — Die Form der Sinfonie schien ausgeschöpft zu sein. Anton Bruckner, der das Erbe von Beethoven und Schubert zusammenrafft, sich die Instrumentierungskunst Wagners und Liszts aneignet, gelingt es, dank der Urwüchsigkeit seiner starken Persönlichkeit in eigener Ton sprache einen neuen Gipfel der Sinfonie aufzutürmen. Der Beginn des ersten Satzes der „Nullten“ Sinfonie erinnert in der losen Gestaltung der schweifenden Streicherfiguration an die 9. Sinfonie Beethovens, von dem auch die straffe Formgebung von Exposition, Durchführung und Reprise des 1. Satzes