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KONGRESS-SAAL DEUTSCHES HYGIENE-MUSEUM Sonnabend, 14. April 1962,19.30 Uhr Sonntag, 15. April 1962, 19.30 Uhr 13. AUSSERORDENTLICHES KONZERT und 5. Abend im Anrecht C für Betriebe GASTDIRIGENT: Konstantin Hiev, Sofia Christ. Willibald v. Gluck (1714—1787) 3 Sätze aus dem Ballett „Don Juan“ Ouvertüre - Andante grazioso Allegro molto - Grazioso Larghetto e Allegro non troppo Lazare Nikolov (geb. 1922) PAUSE Allegro moderato Andante Allegro vivo Konzert für Streichorchester (1949) Erstaufführung Peter Iljitsch Tschaikowski (1840—1893) 6. Sinfonie, h-Moll, op. 74 (Pathetique) Adagio - Allegro non troppo Allegro con grazia Allegro molto vivace Finale: adagio lamentoso ZUR EINFÜHRUNG Das Bild, das wir uns bislang von der bulgarischen Gegenwartsmusik machen konnten, ist allzu lückenhaft und an wenige Persönlichkeiten gebunden, deren Schöpfungen in unseren Konzert sälen erklangen: Pantscho Wladigerov, Ljubomir Pipkov, Petko Stajnov, Wesselin Stojanov, Marin Goleminov, Philip Kutev, Paraschkcv Hadjiev, um einmal die wichtigsten, bei uns bekannt gewordenen Komponisten der Volksrepublik Bulgarien zu nennen. Erfreulicherweise bereichert der Gastdirigent unseres heutigen Konzertes, Konstantin Hiev (Jahrgang 1924), der übrigens selbst ein namhafter Komponist ist, unser Wissen um die zeitgenössische Musik Bul gariens mit der Erstaufführung des 1949 entstandenen Konzertes für Streichorchester seines Landsmannes und Generationsgenossen Lazare Nikolov (Jahrgang 1922). Der aus Burgas am Schwarzen Meer stammende Komponist, der zu den profiliertesten Vertretern der jungen bulga rischen Musik gehört, studierte bei Mitri Nenov (geb. 1902), der seinerseits übrigens einst Musik und Architektur in Dresden studierte und von dem Werke in der Philharmonie wie auch in Berlin erklungen sind. Lazare Nikolov schrieb bisher u. a. zwei Sinfonien, zwei Klavierkonzerte, eine Orchestersuite, drei Klaviersonaten sowie Solosonatcn für verschiedene Instrumente. Das heute erklingende Streicherkonzert, eine seiner gewichtigsten und populärsten Schöpfungen, wurde bereits in allen sozialistischen Ländern aufgeführt. Es ist gekennzeichnet durch eine wunderbar dichte, konzentrierte Faktur und eine immer wesentliche Aussage. Der Komponist schreibt eine lineare, herbe Handschrift; die Logik seiner vornehmlich polyphon orientierten Gestaltungsweise führt ihn zur freien Tonalität, die für das gesamte Konzert charakteristisch ist. In beiden schnellen Ecksätzen unterstreicht ein solistisch konzertierendes Streichquartett das konzertante Prinzip des Werkes. Der erste Satz (Allegro moderato) wird von einem kraftvollen Streicherakkord eingeleitet. Dann erklingt - über einem Pizzicato-Baß und einem kleinen, eng- stufigen Mclisma der Bratschen - in der ersten Violine das charakteristische Hauptthema, das melodisch und rhythmisch Einflüsse der bulgarischen Volksmusik zeigt, die mehrfach in dem Werk zu beobachten sind. Das Hauptthema beherrscht den ersten und dritten Abschnitt des ersten Satzes. Im Mittelpunkt des kontrastreichen, sich häufig dramatisch steigernden musika lischen Geschehens steht eine liedhafte, im wesentlichen vom Solostrcichquartett getragene Episode. Ein Seitengedanke beschließt den Satz energisch. Das substanzreiche, kontrapunktisch gestaltete Andante erweist sich als eine Passacaglia, als eine Folge von Variationen über einer ständig wiederkehrenden Grundfigur. Rondocharakter besitzt schließlich der launische dritte Satz (Allegro vivo) mit seinem auf temperamentvolle Sechzehntelbewegung gestellten Haupt motiv. Wie im ganzen Konzert gestalten häufige Taktwechsel das Bild der Partitur auch in diesem Satz differenziert und mannigfaltig. Nach Motorik und Akkordik mündet das Werk in eine große Steigerung, in der auch ein Glissando aller Streicher nicht fehlt. Peter Iljitsch Tschaikowskis Sechste Sinfonie, h-Moll, op. 74, entstand 1895, im letzten Lebensjahre des Komponisten, und wurde kurze Zeit vor dem Tode des großen russischen Meisters in Peters burg uraufgeführt. Tschaikowski, der das Werk selbst dirigierte, trat damit zum letzten Male in der Öffentlichkeit auf. Die „Sechste“, das letzte große Werk des Komponisten, stellt schlecht hin einen Gipfelpunkt in seinem gesamten Schaffen dar. Sie wurde tatsächlich sein „bestes Werk“, wie Tschaikoswki mehrfach während der Arbeit an der Sinfonie geäußert hatte. Sie wurde zugleich sein Requiem. „Du weißt, daß ich im Herbst eine zum größten Teil schon fertig komponierte und instrumen tierte Symphonie vernichtete, und das war gut, denn sie enthielt wenig Wertvolles und war nur ein leeres Tongeklingel ohne wirkliche Inspiration. Während der Reise kam mir der Gedanke an eine neue Symphonie, diesmal eine Programmsymphonie, deren Programm aber für alle ein Rätsel bleiben soll . . . Dieses Programm ist durch und durch subjektiv . . . Der Form nach wird diese Symphonie viel Neues enthalten, unter anderem wird das Finale kein lärmendes Allegro, sondern im Gegenteil ein sehr langgedehntes Adagio sein.“ Diese Briefstellen des dreiundfünfzigjährigen Tschaikowski an seinen Neffen Wladimir Dawi dow zeigen, aus welcher Situation heraus die „Sechste“ entstanden ist. Die äußeren Lebens umstände des Meisters waren mit zunehmendem Alter durch sich steigernde Ruhelosigkeit, innere Gegensätzlichkeit und Zerrissenheit gekennzeichnet. Nur die Flucht in rastloses Schaffen verhalf ihm zu relativem Gleichgewicht. Leidenschaftlichster unmittelbarer Ausdruck der ihn bewegen den, ja fast zerreißenden Gegensätze wurde seine Sechste Sinfonie. „In diese Sinfonie“, schrieb Tschaikowski, „legte ich ohne Übertreibung meine ganze Seele; ... ich liebe sie, wie ich nie zu vor eine meiner Schöpfungen geliebt habe.“ Wie viele seiner letzten Werke ist auch die „Sechste“ von leidvollen Stimmungen durchzogen, aber nie im Sinne pessimistischer Hoffnungslosigkeit, Todessehnsucht oder willenloser Passivität. Auch im Ausdruck des Tragischen, der Klage, schwingt bei Tschaikowski seine leidenschaftliche Liebe zum Leben mit, seine Überzeugung von den erstaunlichen Kräften der menschlichen Seele, seine Verehrung für alles Schöne und Gute im Leben des Menschen und in der Natur. Unter den nachgelassenen Papieren des Komponisten fand sich ein Programmentwurf für die „Sechste“, nach dem die eigentliche Idee des Werkes mit dem Wort „Leben“ charakterisiert wird. Diese Idee, die ganz allgemein das Auf und Ab der dargestellten Stimmungen deutlich macht, aber durchaus in einem innigen Zusammenhang mit dem Leben des Komponisten steht, hilft dem Hörer beim Verständnis des Werkes, wenn es sich auch ganz und gar nicht um ein „Programm“ im Sinne der illustrativen Programmatik Berlioz’, Liszts oder Richard Strauß’ handelt. Tschaikowskis Bruder Modest erzählt uns in seiner Biographie, wie die Sechste Sinfonie ihren Beinamen „Pathetique“ erhielt. Am Tage nach der Uraufführung grübelte der Komponist über einen treffenden Titel für sein neuestes Werk, dessen ursprünglicher Name „Programmsinfonie“ ihm plötzlich nicht mehr gefiel. Modest schlug ihm „Tragische Sinfonie“ vor, aber auch das miß fiel ihm. „Ich verließ bald darauf das Zimmer, bevor Peter Iljitsch noch zu einem Entschluß ge kommen war. Da fiel mir plötzlich die Bezeichnung ,Pathetique* ein. Sogleich kehrte ich wieder ins Zimmer zurück - ich erinnere mich noch so deutlich daran, als ob es gestern gewesen wäre! - und schlug sie Peter Iljitsch vor, der begeistert ausrief: ,Ausgezeichnet, Modi, bravo! Pathetique* - und dann setzte er in meiner Gegenwart den Titel ein, durch den die Sinfonie überall bekannt geworden ist.“ Wenn Tschaikowski in formaler Hinsicht von „viel Neuem“ in seiner „Sechsten“ spricht, so gilt das für die enorme Gegensätzlichkeit der Themen und der daraus resultierenden Verarbeitung sowie für die Umstellung der Sätze gegenüber der traditionellen Norm. Diese Sätze wiederum sind im einzelnen durch eine große Strenge, Klarheit und Konsequenz des Aufbaus gekenn zeichnet. Sie bedingen sich gegenseitig im Sinne aussagemäßiger Kontraste, sind aber auch durch gemeinsame Elemente miteinander verbunden (Tonfortschrcitungen; spezifisch nationaler Charakter).