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Noch einmal „Kritik der Kritik“ Seit der Veröffentlichung des Artikels von Professor Bongartz und den Philharmonikern im Dezember vergangenen Jahres sind uns eine Reihe von Leserzuschriften zugegangen — zustimmende und ablehnende. Wir haben inzwischen viele Meinungen gehört, Gedanken ausgetauscht und sind zu dem Entschluß gekommen, die aufgeworfenen Probleme vorerst in einem redaktionellen Artikel zu behandeln. Veranlaßt dazu hat uns vor allem die Fest stellung, daß viele Zuschriften am Kern der Sache vorbeigehen und sich mit Nebensäch lichem beschäftigen. Um unseren Standpunkt von vornherein zu bestimmen: Es geht uns nicht darum, in der Presse zu klären, ob sich im i. Klavierkonzert von Prokofjew „Lisztsche Brillanz mit urgesundem Russentum und einigen modernen Zügen zu einem vehementen Ganzen ver bunden hat“ oder ob von der Form her betrachtet „die drei Sätze des Werkes im Schumann- Lisztschen Sinne zu einem einzigen großen Satz zusammengefaßt sind“. Es geht uns nicht um das Cembalo im 4. Brandenburgischen Konzert von Johann Sebastian Bach, nicht um ein Streitgespräch über die Akustik im Kongreßsaal des Deutschen Hygiene-Museums und schließlich auch nicht um Personen. Wir haben die „Kritik der Kritik“ veröffentlicht, weil sie auf einige Erscheinungen zielt, die für einen Teil der Dresdner Musikkritik symptomatisch und deshalb einen Meinungs austausch wert sind. Auch Temperament und Schärfe der Kritik von Professor Bongartz sollten uns nicht an einer sachlichen Betrachtung hindern. Es handelt sich, um das Problem auf einen einfachen Nenner zu bringen, um das Verhältnis von subjektiven Faktoren und objektiven Maßstäben in der Kritik. Jedermann wird einräumen, daß das Urteil eines Kri tikers im Detail subjektiv sein kann und in vielen Fällen auch ist. Selbst vor Irrtümern ist der Kritiker nicht geschützt. Das alles entbindet ihn jedoch nicht davon, nach objektiven, das heißt wissenschaftlichen Maßstäben zu streben — im Gegenteil, das verpflichtet ihn um so mehr. Wir sagen Künstlern und Kritikern nichts Neues mit der Feststellung, daß der Wert einer Kritik gemessen wird an ihrer Wissenschaftlichkeit. Das trifft zu auf die Spezifik der Kunst, genauso aber auch dann, wenn das Gebiet des besonderen Fachlichen verlassen wird und Fragen von allgemeinem, gesellschaftlichem Interesse berührt werden. Zur „Kritik der Kritik“ schickten uns die Freunde der Staatskapelle eine Stellungnahme. Sie sprechen darin die Befürchtung aus, es könne „der Eindruck entstehen, daß die Staats kapelle — von Herrn Böhm geliebt — von vornherein nur gute Kritiken erhielte, die Phil harmonie Up weil gehaßt — nur schlechte“. Die Freunde der Staatskapelle verwahren sich gegen unzutreffende Bewertungen und protestieren dagegen, daß beide Orchester durch schiefe Vergleiche gegeneinander ausgespielt werden. Das aber kann man wahrhaftig nicht aus-dem Artikel von Professor Bongartz und den Philharmonikern herauslesen. Es geht ihnen nicht um Lob und Tadel in der Kritik. Daher ist es notwendig, zu dieser Sache ein paar Worte zu sagen. Am 11. Juni 1958, als der Kongreßsaal eingeweiht wurde, charakterisierte die „Union“ sehr treffend seine Bestimmung: „Ein Saal der Musik, des Wortes und der Lebensfreude, ein Ort der Vermittlung unserer sozialistischen Kultur und des gesellschaftlichen Lebens unserer Heimatstadt /‘ Herr Böhm schreibt am 20. Juni in einer Kritik: „Die Gepflegtheit des Raumes und die in den letzten Tagen mehrfach gewürdigte Anlage löst eine schöne Gehobenheit aus, die so recht die Aufnahmebereitschaft für künstlerische Gaben steigert und die Besucher dankbar stimmt. Über die klanglichen Eigenarten und die hieraus resultierenden Probleme kann in diesem Rahmen noch nichts Abschließendes gesagt werden.“ Am 26. Juni spricht Herr Böhm von gewissen, im Augenblick noch nicht behobenen Eigenarten als Konzertsaal; am 7. Sep tember von akustischen Zweifeln, am 16. Oktober von den notwendigen akustischen Retuschen; und schließlich am 7. November 1958 davon, daß die erstrebte Einheit von Konzert- und Kongreßsaal akustisch nicht erreicht worden sei. Seine Bemerkungen zur Akustik sind jedoch nie verknüpft mit der Beurteilung der Philharmoniker. In der ganzen darauffolgenden Zeit bis zum 18. September 1959 wird die Akustik in den Kritiken gar nicht mehr erwähnt, schwelgen die Philharmoniker in Klangschönheit, klingt das Holz adelig, das Blech rund und voll und ähnliches mehr. Wie gesagt, erst am 18. September 1959, fast zehn Monate sind verstrichen, beim Strauß- Gedenken der Staatskapelle im Kongreßsaal, setzt die Kritik an der Akustik mit Vehemenz ein, beginnen die „Ohne-Schuld-des-Orchesters-“, die „Ohne-Schuld-des-Interpreten- Argumente“. Bei allen Unterschieden, die es im Klangcharakter beider Orchester geben mag, erscheint uns eine so unterschiedliche Bewertung nicht gerechtfertigt. Ob gewollt oder ungewollt, beschwört Herr Böhm damit „schiefe Vergleiche“ zwischen beiden Orchestern herauf. Wenn es schon eine Rivalität zwischen beiden Orchestern gibt, dann nur im besten Sinne: nach höchster Qualität zu streben, das Große und Schöne aus Vergangenheit und Gegenwart breitesten Kreisen der Werktätigen zu übermitteln, um so mit allen Kräften ihre Funktion in der kulturellen Erziehung des Volkes zu erfüllen. Aber gerade das scheinen Herr Böhm und einige andere Musikkritiker, von denen noch die Rede sein wird, nicht verstanden zu haben. Qualität und hohe Klangkultur sind doch niemals Selbstzweck, die Musik dient dem Men schen, sie ist auch nur ein Teil im ganzen Kulturleben der Republik, und die sozialistische Kultur ist eine einheitliche Kultur des ganzen Volkes. Wir haben mit vielen Fachleuten und Musikern gesprochen, die zwar einräumen, daß der Raum vielleicht nicht allen Anforderungen an einen Konzertsaal genüge, aber die Über steigerung gewisser Mängel weisen sie weit von sich. Freilich, eine ,,Traum-Akustik“ wird immer zu den seltenen Fällen gehören. Mag das Konzertieren im Kongreßsaal der Staats kapelle manche Unbequemlichkeit bringen, mögen auch manche Wünsche offenbleiben, die Leitung der Staatstheater und der Rat der Stadt ließen sich doch von dem Gedanken leiten, noch mehr Menschen die Gelegenheit zu einem Musikerlebnis mit der Staatskapelle zu bieten. Natürlich ist bekannt, daß wir im Augenblick in Dresden räumlich noch beengt sind. Eben sowenig sind jedoch die Vorhaben im Siebenjahrplan ein Geheimnis. Das Haus der soziali stischen Kultur wird neue Möglichkeiten für Konzerte und kulturelle Veranstaltungen aller Art schaffen, bis schließlich auch der Wunsch, der Bau der Semper-Oper, erfüllt sein wird. Was für einen Sinn hat, mit Rücksicht auf all dies, die lauthals erhobene Forderung (Herr Schmiedel z. B. schreibt im „Sächsischen Tageblatt“ am 9. Dezember 1959: „Weg von die sem Saal, zurück ins Große Haus . . .“), die Staatskapelle solle nicht mehr im Kongreßsaal musizieren? Hat sich Herr Schmiedel, um bei unserem Beispiel zu bleiben, einmal überlegt, wieviel tausend Menschen mehr das Schauspiel im Großen Haus besuchen können, wenn eine Reihe von Konzerten der Staatskapelle in den Kongreßsaal verlegt wird, wie die Proben arbeit im Großen Haus erleichtert wird, daß mehr Neuinszenierungen möglich sind usw.? Uns geht es in diesem Artikel um die Übersteigerung und die Maßlosigkeit der Kritik, die in Widerspruch zu allgemeinen Interessen gerät. Da sind die Kritiken zum 4. Sinfoniekonzert der Staatskapelle. Herr Schmiedel schreibt u. a. im „Sächsischen Tageblatt“: „Jedes neue (Konzert der Staatskapelle in diesem Raum beweist aufs neue, wie verheerend die Akustik ist. Damit sind alle Voraussetzungen gegeben, daß man die in aller Welt berühmte Klangkultur der Staatskapelle Dresden zerstört und untergräbt. . . “ Herr Rudloff schreibt in den „SNN“ mit Beziehung zur Akustik: „Einem Galeriedirektor, der ein Bild eines mit feinsten Farb schattierungen arbeitenden Pleinairisten in die dunkelste Ecke seines Museums hängte, würde man mit Recht auf die Finger klopfen.“ Was soll das? Niemand verwehrt einem Kritiker, von seinem Standpunkt aus (und vielleicht auch mit ein wenig Bescheidenheit) sachlich seine Meinung zu sagen oder eine Empfehlung zu geben. Aber hier wird vom Leder gezogen gegen einen geheimnisvollen „man“. Wer ist der „man“, der die Klangkultur der Staatskapelle zerstört, und wem soll auf die Finger geklopft werden? Ähnliche Töne klingen an im Zusammenhang mit der Verpflichtung Otmar Suitners als Generalmusikdirektor der Staatskapelle. Natürlich ist der Kritiker verpflichtet, das ist ja sein Amt, die Leistungen und das Können des Dirigenten bei einem musikalischen Ereignis zu beurteilen. Aber Herr Böhm z. B. widmet der Person Otmar Suitners ganze Spalten, er