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ZUR EINFÜHRUNG Max Reger hat neben Orchesterübertragungen von Klavierliedern von Franz Schubert, Johannes Brahms und Hugo Wolf auch eine ganze Reihe eigner Gesänge instrumentiert und sie damit dem Orchesterkonzert zugänglich gemacht. Die überaus klangvollen Liedbear- beitungen für kleines Orchester, unter denen sich treffliche lyrische Einfälle Regers befinden, wurden in früherer Zeit (als die Orchesterlieder von Mahler und Strauss aufkamen) sehr häufig aufgeführt. Aus der Epoche seiner Freude am vollen Orchesterklang entstammen die beiden einzigen solistischen Liedwerke mit Orchester, die Reger im Original für diese Besetzung schuf: Hölderlins Hymnus „An die Hoffnung“ für eine Altstimme und Orche ster op. 124 (der damals berühmten Altistin Anna Erler-Schnaudt zugeeignet) und der im September 1914 komponierte „Hymnus der Liebe“ für Bariton oder Alt mit Orchester op. 136 (seinen Freunden Fritz und Gretel Stein gewidmet). Reger hat in den letzten Monaten des Jahres 1914 besonders eifrig komponiert. „Ich arbeite immer bis tief in die Nacht hinein . . . Sie ahnen nicht, was ich jetzt alles zusammenarbeite!“ heißt es in einem Briefe vom September 1914. Nach den berühmten Mozart-Variationen für Orchester, die er gerade korrigierte, entsteht in wenigen Wochen das große Klavier quartett in a-Moll op. 133 („es ist schon im Stich!“), die Variationen und Fuge über ein Thema von Telemann für Klavier zu zwei Händen op. 134 und der „Hymnus der Liebe“. Der Text des Hymnus von Ludwig Jacobowski (aus „Geschlecht der Promethiden“) hat ihn tief ergriffen in diesem ersten Jahre des Weltkrieges. Während des Völkermordens steigert er aus glühender Seele die bedeutungsvollen Schlußverse zu jenem melodisch weitgespannten Hochgesang auf die versöhnende, einigende Macht der Menschenliebe: „Säh ich vernichtet alle Gespenster des Staubes, säh ich auf seligem Antlitz den ersten Schimmer erwachenden Weltenglücks und Elysium — siehe, ich stürbe so gern!“ Zwar von ganz anderer äußerer Aufmachung, aber einig im Geiste mit diesem Regerschen Werke ist die 3. Sinfonie in d-Moll von Gustav Mahler, dessen 100. Geburtstag wir heuer feiern. Gustav Mahler — in seinem Orches ter schaff en nach Brahms und Bruckner zwischen Richard Strauss und Hans Pfitzner stehend — ist eine der interessantesten und| am meisten bekennerhaften Musikerpersönlichkeiten um die Jahrhundertwende. Wenn wir auch „dem Bekenner Mahler heute nicht immer zu folgen vermögen, seine Bedeutung für die allgemeine Musikgeschichte wird durch seine Offenheit nicht geschmälert (Rudolf Bauer)“, er ist und bleibt der erregende Zukunftweiser seiner Zeit, seine Werke haben uns auch noch heute Grundlegendes zu sagen. Mahler war Schüler von Anton Bruckner an der Wiener Universität, wo er sich das Fundament für seine außerordentliche Gesamt bildung erwarb, dann Kapellmeister in Olmütz, Prag, Leipzig, Budapest, Hamburg, gewal tiger Operndirektor in Wien, berühmter Dirigent der Metropolitan-Opera in New York. Als Komponist begann er mit einer Johannes Brahms nachempfundenen Hingabe an das Volkslied (Lieder eines fahrenden Gesellen, Wunderhornlieder nach des „Knaben Wun derhorn“ von Arnim von Brentano), die er auch in seinen Sinfonien beweist. Das „Lied von der Erde“, ein fast sinfonienaher Liederkreis mit Orchester, ist für viele das ergreifend ste Werk Mahlers. Von seinen zehn Sinfonien (die zehnte ist Skizze geblieben) ist vielleicht die achte Sinfonie („Sinfonie der Tausend“ wegen der hohen Zahl der Mitwirkenden) die sensationellste, nicht minder großartig in der Anlage ist die zur Aufführung kommende dritte Sinfonie. Die Sinfonie ist das „Lied vom großen Pan“ (Pan ist der griechische Naturgott), ein Hym nus der Natur, ein Hoheslied auf den „Kuß der ganzen Welt“, auf die all-erhaltende, ewige Liebe. Ursprünglich wollte Mahler der Sinfonie den Gesamttitel „Meine fröhliche Wissenschaft“, später „Ein Sommermorgentraum“ geben. Die Einzelsätze hatten die Über schriften: 1. Pan erwacht, der Sommer marschiert ein. 2. Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen. 3. Was mir die Tiere im Walde erzählen. 4. Was mir der Mensch erzählt. 5. Was mir die Engel erzählen. 6. Was mir die Liebe erzählt. (Ein weiterer 7. Satz, „Was mir das Kind erzählt“ sollte er heißen, ist zum Schlußsatz der vierten Sinfonie geworden.) Die als endgültige Fassung angegebenen Titel der einzelnen Sätze stammen aus dem Pro grammbuch des Berliner Philharmonischen Konzerts vom Januar 1907. Mahler hat sie selbst als verbindlich angeführt mit dem Zusatz: „Die Überschriften, welche der Kompo nist ursprünglich den einzelnen Sätzen gegeben hatte, mögen dem mit dem Werke nicht ver trauten Hörer zur Orientierung über den Gefühls- und Gedankeninhalt dienen.“ Mahler hat lange über die Formulierung der Satzüberschriften geschwankt, sie anfänglich ganz weggelassen. Das gab dann Anlaß, besonders den ersten Satz — er zählt fast 900 Takte und dauert fast dreiviertel Stunden — „in seiner aus abgründigem, starrem Schweigen sich lösenden, erst allmählich zu artikulierten Lauten gelangenden Stimmung des langsamen Erwachens, der mystischen Trunkenheit des ,Aufblühens im Lenz 4 und in seiner auf wogenden Bacchus-Tollheit in all ihrem Rausch, ihrem Lodern und ihren phantastisch possenhaften Elementen falsch zu deuten. Man hatte auch nicht verstanden, daß in solch heiterem Sommermorgentraum auch das ewig Närrische und das ewig Gemeine neben ver zückter Erhabenheit sein Anrecht auf einen Platz im Sonnenlicht hat, so wie Pyramus und Thisbe und der zum Esel gewandelte Zettel im Mondlicht des Shakespeareschen Sommer nachtstraumes (Richard Specht).“ Im Grunde genommen hatte Mahler Furcht vor Pro grammusiküberschriften. Er kannte sowohl den anregenden Wert des „Programms“ wie seine beengende Wirkung. Er bediente sich des Programms, wo es ihm zweckdienlich schien, er ließ es unbenutzt, wo es überflüssig war. In der dritten Sinfonie schien es ihm — mit Recht —- schließlich zweckdienlich. Bruno Walter, der berühmte Dirigent, der Freund und Interpret Mahlers, meint hierzu in einem Briefe, „daß wir zwar darauf verzichten müssen, durch sie (die Überschriften über den einzelnen Sätzen) über Mahlers Musik nur im geringsten aufgeklärt zu werden, daß wir aber aus seiner Musik die tiefste Aufklärung über den durch die Überschriften gekennzeichneten Empfindungskreis erhalten. Nicht ein Naturliebender, sondern die Natur selbst in seltsamen, außermenschlichen, in Musik ver-