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ZUR EINFÜHRUNG Der heute 59jährige, in Genf geborene, jetzt in Amsterdam lebende Komponist Frank Martin ist verhältnismäßig spät zur europäischen Berühmtheit emporgewachsen. Aufmerksam wurde die musika lische Welt durch seine Kantate „Der Zaubertrank“, die den Tristanstoff auf eine neue, behutsame Art behandelt. Das andere Werk, das weiterhin die Menschen aufhorchen ließ, war die ,,Kleine konzer tante Symphonie". Diese Symphonie überrascht zu nächst vom Klanglichen her, ist sie doch ein Stück für Saiteninstrumente: für Harfe, Cembalo, Klavier und zwei Streichorchester. Es ist verständlich, daß sich an diesem klanglichen Apparat die Phantasie eines Komponisten entzünden kann, wie es bei Martin auf eine bezaubernde Art eingetreten ist. Hinzu kommt, daß der lange Zeit in Genf lebende und wirkende Komponist dem französischen Kultur kreis der Schweizer Musik angehört, daß infolge dessen die Ausdrucksmittel des französischen Im pressionismus einen starken Einfluß auf ihn aus übten, daß aber auch die lateinischen Formkräfte in ihm spürbar werden. Schönberg und Strawinsky zollte er allerdings auch seinen Tribut. Anlagen, Ein flüsse und eigene schöpferische Absichten lassen Frank Martin zu einem gehärteten Impressionismus hin entwickeln. Martin ist außerordentlich empfind lich, begabt mit einem sensiblen Gefühl. Er ist aber auch ein denkender Mensch. Beide Seiten seines Wesens gehen eine glückliche Verbindung ein und prägen das Bild seiner Persönlichkeit. In den drei Sätzen, die ineinander übergehen, sind eigentümliche, reizvolle und zauberhafte Klänge zu hören. Schon die Möglichkeiten, die zwei Streich orchester gegeneinander ausspielen zu lassen: das eine pizzikato, das andere gestrichen, d^s eine ge dämpft, das andere mit seinem klaren Klang, ergeben vielfältige Mischungen. Die hinzu tretenden drei Soloinstrumente bereichern den Saitenklang um die Möglichkeiten der gezupften, angerissenen und ge hämmerten Klangerzeugung. Unvergeßlichlich wird jedem der . Beginn des zweiten Satzes bleiben, in welchem die Harfe eine gleichsam unirdische Melodie zu begleitenden Cembaloakkorden singt. Der erste Satz, nach einer breiten, stark chromatischen Ein leitung, entfaltet alle Reize eines Tripelkonzertes. Der Schlußsatz stellt einen Marsch dar, der sich gegen Ende auf allerlei rhythmische Eigentümlich keiten zuspitzt. Die Symphonie Frank Martins ist ein charakte ristisches Werk der Neuen Musik, das auf eine lebendige Art den Geist dieser Kunst zu vermitteln vermag. Es ist interessant zu erfahren, daß Tschaikowsky, der für uns heute der Inbegriff der russischen Musik neben Mussorgsky ist, von seinen russischen Zeit genossen selbst als ein westlerisch ausgerichteter Komponist hingestellt wurde. Und es ist ebenso interessant zu hören, daß Tschaikowsky die Musik Mussorgskys mit dem Ausspruch: „Sie ist nicht schön“ gekennzeichnet hat. Er tat es, weil er selbst andere Ideals hatte, die eine Zeitlang mit dem sym phonischen Schaffen Deutschlands parallel liefen und das musikalische Rüstzeug und Handwerk des von Rußland aus westlich liegenden übrigen Teiles von Europa verwendeten. Uns heute ist gerade sein urrussisches Musikantentum, das sich in vielen russischen Melodien äußert, lieb und wert. Die „Variationen über ein Rokokothema für Violon cello und Orchester“ op. 33 spiegeln diese Zwei seitigkeit seiner Seele wider, die im Volkstum seiner Heimat und im Verlangen nach der europäischen Zivilisation verwurzelt ist. Dem Rokokocharakter des Themas entsprechend (das nach einer langsamen Einleitung vom Solocello vorgetragen wird) ist das ganze Werk von einem heiteren, verspielten Ton durchzogen, von einem liebenswürdigen, graziösen Element getragen. Damit gewinnt sich dieses Werk, das dem Solisten alle Möglichkeiten zur Entfaltung seines Könnens bietet, die Zuneigung aller Hörer. Bewunderungswürdig ist in den sieben Variationen die Durchsichtigkeit und Eleganz der Instrumen tationskunst Tschaikowskys, mit der er niemals den Klang des Violoncellos verdeckt. Dieses dankbare Werk ist sehr gut dazu geeignet, das Verständnis für russische Musik zu wecken und die Beziehungen zur russischen Kultur enger knüpfen zu helfen. Der Don Quixote von Richard Strauß ist schon über ein halbes Jahrhundert alt. 1897 ist das Werk geschrieben worden. Die „phantastischen Varia tionen über ein Thema ritterlichen Charakters“, in eine Introduktion und einen an diese anklingenden Epilog eingerahmt, versuchen, eine Schilderung der Persönlichkeit des Ritters von der traurigen Gestalt und seiner Schildknappen Sanclio Pansa zu geben. Das Violoncello verkörpert Don Quixote, die Tenor tuba den behäbigen immer ans Materielle denkenden Begleiter des melancholischen Ritters. In dpn iq Variationen werden verschiedene Episoden aus der tragisch-komischen Fahrt des Ritters ge schildert, es werden Abenteuer mit einer Bildkraft lebendig gemacht, die das außergewöhnliche orchestrale Können von Richard Strauß aufs neue beweisen. Wenn jedoch Strauß das Blöken der Schafe mit eiuem Realismus sondergleichen schildert, begibt er sich aus den Bereichen der Kunst hinaus. Vor 50 Jahren fand man diese Stelle köstlich, heute fragt man, ob diese Artistik der Instrumentation mit dem wahren Sinn der Musik vereinbar sei, ob das noch etwas mit „Musik“ zu tun habe. Doch soll uns der Wandel der Betrachtungsweise nicht davon abhalten, zu erkennen: daß Strauß, der 85jährige, ein überragender Könner und oft auch ein genialer Musiker, heute einer der meist aufgeführten Kompo nisten ist und daß er durch seine Werke den Ruhm der deutschen Musik über die ganze Erde verbreiten half. Er ist der Repräsentant des bürgerlichen Zeit alters, er ragt in 'unsere Zeit, hinein als der Zeuge einer vergangenen, sehr genußfreudigen und mit Glanz und Sattheit prunkenden Epoche — und ir gendwie steht er fern den schweren Problemen und Aufgaben, die unsere Zeit zu bewältigen hat. Johannes Paul Thilman