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ZUR EINFÜHRUNG Heinz Bongartz beweist mit seinem op. 29 (Sere nade, Notturno, Scherzo für Orchester), daß er, den wir vornehmlich als Dirigenten kennen, ein bedeu tender Komponist ist, der etwas zu sagen hat. Jeder Takt zeugt dafür, daß er seine Einfälle in ein sehr gut klingendes klangliches Gewand zu kleiden ver mag, daß er dem naheliegenden kapellmeisterlichen Musizieren aus dem Weg geht durch die Originalität seiner Erfindung und seiner recht persönlichen In strumentationskunst. Die Serenade bedient sich der dreiteiligen Liedform: der ruhige Vor- und Nachsatz schließt einen leb haften, leichten, tarantellaähnlichen Teil ein. Auf fällig ist der Hang zur Entwicklung schöner Melo dien, die sich in dieser Serenade die Hand reichen. Das Notturno ist ein leidenschaftliches Adagio. Zarte verträumte Streicherklänge beginnen, denen ein Auf schwung voller Pathos folgt mit charakteristischen, rhythmisch sehr prägnanten Themen. Allmählich beruhigt sich dieser leidenschaftliche Ausbruch und mündet in die süßen, verklärten Klänge des Beginns. Das Scherzo dagegen läßt alle Teufeleien einer mo dernen Rhythmik spielen. Ungradzahlige Takte tauchen auf, durch Taktwechsel verschieben sich un- unterbrochen die Schwerpunkte, so daß ein rhyth misch sehr interessantes Bild entsteht. Bizarre Melo dien, von den hohen Holzbläsern vorgetragen, geben diesem Satz seinen besonderen Charakter. Eine ruhige Episode schiebt sich ein. Die rhythmischen Energien aber triumphieren zum Schluß wieder, das Werk endet in einem wirkungsvollen, sehr frischen Finale. Wer weiß noch, daß Serge Rachmaninoff mehrere Jahre t in Dresden gelebt hat? Vor und nach dem ersten Weltkrieg verbrachte er hier einige Jahre, diese Stadt als eine Zwischenstation seines kosmo politischen Lebens (Petersburg, Moskau, Dresden, Neuyork) betrachtend. Er ist jetzt Bürger der USA. Freilich ist er es nicht als Komponist. Er studierte bei Siloti, Tanejew und Arensky — und als Kompo nist knüpfte er beim neuromantischen Stil Tschai- kowskvs an. Der Realismus Mussorgskis lag ihm gar nicht, während die romantische Sehnsucht der bürgerlichen Welt, ja manchmal des bürgerlichen Salons, in seinen Werken ihren starken, oft über zeugenden Ausdruck fand. Rachmaninoff begann seine Komponistenlaufbahn mit einigen Opern, unter ihnen die 1 wörtlich nach Puschkin vertonte Oper „Der geizige Ritter" (1906). Seine eigentliche Domäne ist allerdings das Klavier. Seine schönsten Einfälle hat er ihm anvertraut, seine bekanntesten Werke sind eben Klavierstücke. Wer kennt nicht das so häufig gespielte Prelude in cis-moll? Rachmaninöff war selbst ein gewaltiger Pianist, dem eine reiche Skala vom impressionistisch-zarten Cha rakter bis zum titanischen Klavierdonner zur Ver fügung stand. Es lag nahe, daß er dieses Können auf „seinem“ Instrument und die Liebe zu ihm in drei Klavierkonzerten niederlegte. Von ihnen kommt das d-moll-Konzert zu Gehör, das gegenüber dem be kannten Konzert in c-moll bisher stark zurücktreten mußte. Man spricht von der „Fünften“. Jeder weiß, daß damit die Fünfte Sinfonie Ludwig van Beethovens gemeint ist, sein op. 67 aus den Jahren 1807/08. Damit wird ausgesagt, daß dieses Werk in den gei stigen Besitz aller Musikgebildeten, ja, darüber hin aus wohl in das Bildungsgut des Abendlandes über gegangen ist. Diese c-moll-Sinfonie, die, nach einem eigenen Ausspruch Beethovens, der auf die vier Ein leitungstakte anspielt („So pocht das Schicksal an die Pforte"), auch die Schicksalssinfonie genannt wird, enthält allerdings auch einen Satz, den ersten nämlich, der wohl zum Geschlossensten gehört, was die Tonkunst bisher hervorgebracht hat. Diese Größe und Einheitlichkeit dieses erstaunlichen Satzes ist auf die enge Angleichung des thematischen Mate rials zurückzuführen, bei der sich von vornherein das zweite Thema den immerfort klopfenden Achteln des Schicksalsthemas unterwirft. Goethe hat aüs- gerufen, als ihm der junge Mendelssohn diesen Satz vorspielte: „Das ist sehr groß, ganz toll, man möchte fürchten, das Haus fiele ein; und wenn das nun alle die Menschen zusammen spielen!“ Im Andante con moto variiert Beethoven mehrere Themen. Das erste ist das entscheidende Thema, die Bratschen und Celli tragen es vor. Manchmal hat dieser Satz eine Trauermarschstimmung, und bis weilen klopft in ihm drohend das Schicksalsmotiv des Beginns. Beethoven, der sich nicht gern in ausgefahrenen Geleisen bewegte, sondern der seit je eigene Wege ging, brachte in dieser Sinfonie eine Neuerung: die Verbindung von Scherzo und Finale durch eine Überleitung, also die Zusammenfassung des dritten und vierten Satzes. Auch das Scherzo bringt, rhyth misch dem Dreivierteltakt angepaßt, das pochende Schicksalsmotiv. Sein Hauptthema jedoch, der ge brochene c-moll-Akkord, klingt stark an das Final thema der g-moll-Sinfonie von Mozart an. Die Über leitung zum Finale halten manche für eine der genial sten Eingebungen Beethovens; Busoni meinte, diese Stelle sei eine dör wenigen, die wahre Musik zeigte, eine Musik, die nicht in Formen, Formeln und Sche- matas eingezwängt und erstarrt sei. Das Finale er freut immer wieder durch seinen jubelnden Optimis mus. Die vier Themen, die das gedankliche Gerüst dieses Satzes bilden, der in klarem C-dur geschrieben ist, sind diesem freudigen Charakter angepaßt. Ihr Bau ist so einfach, so schlicht, daß jeder Mensch sie begreift, sie versteht, von ihnen sofort angesprochen wird. Von hier aus erklärt sich die weltumspannende Wirkung dieser Sinfonie, die die tiefsten Gedanken ausspricht und dennoch die breiteste, ja fast popu lärste Wirkung hervorruft. Johannes Paul Thilman.