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Es ist nicht ganz klar, wo die Anfänge des Werkes liegen. Möglich, daß es unter dem Eindruck von Robert Schumanns Tod begonnen wurde. Brahms hat sich später (1873) einmal darüber geäußert, „wie sehr und wie innig ein Stück wie das Requiem überhaupt Schumann gehört“. Sicher aber ist, daß der Tod der Mutter das begonnene und liegengeblicbene Werk neu in Fluß gebracht hat. So wäre es also ein Requiem für zwei Menschen, die Brahms besonders geliebt und verehrt hat. „Es hat sich ganz gut gemacht“, sagte der alte Brahms, nachdem er das Werk des Sohnes bei der Uraufführung am Karfreitag 1868 im Bremer Dom zum erstenmal gehört hatte. O ja, ganz gut. Mit diesem Werk hat sich Brahms neben Bach und Beethoven gestellt und bis heute hat ihm keiner diesen Platz streitig machen können. Dabei hat er auch hier seine Individualität voll durchgesetzt. Schon die Anlage des Textes beweist es. Der Bibelkundige, der das „Buch der Bücher“ im Dunkeln greifen konnte, hat ihn sich selbst zusammengestellt, und so ist Brahms in diesem eingeschränk ten Sinn, da er Auseinanderliegendes „verdichtet“ hat, zum Dichter-Komponisten geworden. Auseinanderliegendes, verstreut im Alten und im Neuen Testament. Zusammen gestellt in einem von dem Begriff des kirchlich-katholischen „Requiems“, der „Seelen messe“, gänzlich abweichenden Sinn. Diese ist, man sollte sich einmal darüber klar werden, textlich bedingt durch die Form der Messe überhaupt. Deshalb kommen Stücke in ihr vor wie das „Kyrie“, das „Benedictus“, das „Sanctus“, die mit dem Gedanken an Tod und Auferstehung nichts zu tun haben. Sie haben für den Komponisten aller dings den Vorteil, daß sie Anschauliches einbeziehen. Dadurch wird das „Requiem“ dramatisch gefärbt, in die Nähe des Oratoriums gerückt. Nichts von alledem bei Brahms und seinem „Deutschen Requiem“. Hier dreht sich alles um den Gedanken: Tod, Trost und Auferstehung. Was Brahms uns geschenkt hat, ist keine Totenmesse; es ist, wenn man überhaupt den Begriff „Messe“ zulassen will, eine Messe des (ewigen) Lebens. Das Dramatische ist ganz aufgegeben. (In der Anlage; nicht innerhalb der einzelnen Sätze!) Es ist eine episch-lyrische, um nicht zu sagen eine didaktische Folge von Be trachtungen über den Tod. Und darüber, wie wir uns zu ihm stellen. (Brahms hat die Fragestellung mehrmals aufgegriffen, zum letztenmal in den „Vier ernsten Gesängen“). Das „Deutsche Requiem“ ist eine Folge von Variationen. So war es auch möglich, daß Stücke nachkomponiert und eingeschoben werden konnten. Man hat versucht, eine nachträgliche Symmetrie festzustellcn. Demnach würden sich der erste und der letzte Satz entsprechen, der zweite und der sechste, der dritte und der fünfte, während der vierte Satz als Mittelpunkt zu betrachten wäre. Das geht nicht ganz ohne Konstruk tionen ab, so braucht z. B. die Klage in der dritten Nummer nicht erst auf die Tröstung der fünften Nummer (in der ihrerseits nichts von Klage steht) zu warten, da sie selbst mit der großen Trostfuge „Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand“ endet. Die thematische Beziehung ist ohne weiteres in den beiden Ecksätzen gegeben, auch musikalisch. Damit führt Brahms geradezu ein sinfonisches Prinzip in das Chorwerk ein, das seiner Gattung nach als reine Kantate zu bezeichnen ist. Der erste Satz enthält die Seligpreisung der Trauernden, der letzte die Seligpreisung der Toten. Der musi kalische Charakter ist der gleiche, auch die Tonart, F-dur. Dieser Charakter ist liedhaft weiche Musik, die oft zwischen Chor und Orchester hin und her wandert, und dem entsprechend auch eine weiche Harmonik. Dabei gibt es feinste Unterschiede! In der Instrumentation, wenn Brahms im ersten Satz auf die hellklingenden Instrumente, die Violinen, die Klarinetten und die Trompeten, verzichtet, um mit dieser dunklen Grundfarbe den Trost unter Tränen anzudeuten, während für die Seligpreisung der verklärten Toten auch die hohen Streicher eingesetzt werden; wenn diesem gegensätz lichen Charakter entsprechend der Mittelteil des ersten Satzes in dem dunkleren Des johannes Brahms: Ein deutsches Requiem