soll der Entwicklung der Dinge folgen und kann es mit gutem Gewissen. Sie erfüllt gerade hierin ihren Beruf. Es sei aber dazu noch auf eine sehr lehrreiche Thatsache hingewiesen. Ich sagte, die christliche Sittlichkeit folge deni Gang der geschichtlichen Ent wicklung nach. Es ist in der That so, daß sowohl der einzelne Christ wie auch die Gemeinde neuen Erscheinungen und Bewegungen auf dem sittlichen Gebiete zunächst beobachtend, fragend gegenüber- steht, auf manches einzugehen nur zögernd sich entschließen kann. Man muß erst prüfen, ob und wie weit das Neue sich ziemt; und es ist kein schlechtes Zeichen, wenn man damit nicht so schnell fertig wird. Aber ist man darüber mit seinem Gewissen ins Reine ge kommen, so bedeutet das auch einen sittlichen Fortschritt, und so hat die Sache selbst damit ihr sittliches llrteil erfahren. Überschauen wir aber die Faktoren, aus deren Zusammen wirken unsere Sittlichkeit und Sitte sich gebildet hat, so finden wir auch hier wieder neben der Lebensmacht des Evange liums geschichtliche Stimmungen, Bewegungen und Ver hältnisse und eingreifende Persönlichkeiten. Unter diesen letzteren steht, allen voran, Luther, auch auf unserem Gebiete ein Prophet, der wie kein andrer in der ganzen Kirche die christliche Sittlichkeit reformatorisch beeinflußt hat und noch immer beeinflußt; auch feine Gegner können sich diesem Einfluß nicht ganz entziehen. Wenn ich mich der Einfachheit wegen auf das evangelische Gebiet Deutschlands beschränke, so ist neben Luther nur noch Spener zu nennen. Einen andern wüßte ich nicht hinzuzufügen, der in ähnlicher Weise wie sie den sittlichen Anschauungen der großen Ge meinde eine bestimmte Richtung angewiesen hätte. Denn Schleier macher vertritt zwar eine große sittliche Idee, die der Individualität, allein sein Einfluß erstreckte sich doch nur auf einen beschränkten Kreis. Dagegen möchte ich als Typus der in ihrer charakteristischen Bedeutsamkeit wiederholt hervorgehobeuen christlichen Liebesthätigkeit der Gegenwart noch Wichern nennen. Seine berühmte Rede bei dem Wittenberger Kirchentage im Jahre 1848 bezeichnet den Wende punkt, mit dem die evangelische Gemeinde in die große Arbeit der „inneren Mission" eintrat. Wenn aber soeben bemerkt werden mußte, daß seit Luther und Spener kein Mann der Kirche aufgetreten sei 3