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32 Festigkeit und Sicherheit, mit der die Zeit im christlichen Glauben stand, schwer vereinbar erscheint. Ich erinnere an die häßlichen Auswüchse der Polemik, die vielfach entgegentretende Weihelosigkeit in der Behandlung des Heiligen, die Härte gegen die Mitmenschen, den sinnlosen Aberglauben, offenbare grobe Leidenschaften bei Persön lichkeiten, die entschieden als christliche gelten wollten und galten. Die Zeiten waren freilich hart, und es wirkte, wie Tholuck bemerkt, noch lange die Zeit des ausgehenden Mittelalters nach. Allein hier hatten Männer wie I. Arnd entschieden Recht, zur Buße zu rufen und vom „wahren Christentum" zu reden, was man ihm seiner Zeit sehr übel nahm; und hier hat der Pietismus seinen Beruf gehabt. Wenn das christliche Leben jetzt mehr Haltung und Weihe zeigt, wenn wir mehr bedenken gelernt haben, was ehrbar ist, was gerecht, was keusch und lieblich, was wohl lautet, so hat der Pietismus hier ein großes Verdienst; und nicht er allein: es muß ausgesprochen werden, daß das christliche Ethos auch von der Humanitäts bewegung gelernt hat. Woher aber die für die Gegenwart so charakteristische christliche Werkthätigkeit ihren ersten Anstoß ge nommen, und durch welche äußere geschichtliche Veranlassungen sie sich so mächtig entfaltet hat, ist bekannt. Wir werden hier wieder an den Pietismus erinnert, an die durch Entdeckungen, Verkehr und Handel sich neuerschließende große Welt, an die in den Verkehrs mittelpunkten sich zusammendrängenden Menschenmassen mit ihrem Elend u. a. Diese Beispiele wollten zeigen, wie es die Geschichte, geschicht liche Verhältnisse und Wandlungen sind, an denen sich die christ liche Sittlichkeit entfaltet, um so ihren Inhalt auszuwirken. Ja, hier erst, auf evangelischem Boden, kann sich das aufdierechte Weise erfüllen, was oben vom Zusammenwirken der christlichen An schauungen mit den natürlichen Mächten der Geschichte bemerkt wurde. Denn hier erst treten diese in ihr volles sittliches Recht und können so die christliche Denkweise anregend, richtunggebend beeinflussen. Denn hier springt wieder der mächtige Unterschied zwischen der mittelalterlichen und der reformatorischen Anschauung in die Augen. Jene wird durch die Geschichte der weltlichen Mächte immer von neuem an sich irre; die reformatorische dagegen darf nicht nur, sie