28 Aber auch ohne das sind wir von der Überzeugung durchdrungen, daß sich Glaube und Frömmigkeit in einem geheiligten Sinn und Leben zu beweisen habe. Dieses letztere ist uns der Prüfstein für das persönliche Christentum, und wir sind darin sehr kritisch. Wir nehmen Anstoß an solchen Erscheinungen — sie sind in der Kirchen geschichte nicht selten — wo sich bei stark ausgeprägter Frömmigkeit offenbare sittliche Mängel zeigen; andre Zeiten kamen über solche Disharmonien leichter hinweg. Wenn sie dagegen ihr Interesse in hervorragender Weise dogmatischen Fragen zuwendeten und sich darüber leidenschaftlich erhitzen konnten, so treten diese bei uns zurück, so kann man gerade hier sehr nachsichtig und duldsam sein. Aus dem Bewußtsein aber, daß man sein Christentum im christlich sittlichen Wirken an der Welt zu bethätigen habe, hat sich eine emsige Betriebsamkeit entwickelt, die auch zu den charakte ristischen Zügen der Gegenwart gehört. Wie schnell und einfach war man zur Zeit der Orthodoxie über die große weite Heidenwelt beruhigt; wie hielt man sich mit seinem christlichen Interesse im engsten Kreise, wie ging, solange nicht äußere Unruhen einbrachen, das kirchliche Gemeindeleben seinen still geregelten Gang! Jetzt fühlt man sich verpflichtet, Allen und Allen auf ihre Weise, nach ihrem Bedürfnis zu dienen; jetzt hat man einen erschlossenen Blick für das Verkommende und Gefährdete, und jetzt will man Alles dem Christen tum zu Dienst stellen und dazu jede sich bietende Gelegenheit benutzen. Wenn man etwa in künftigen Zeiten einmal das christliche Leben der Gegenwart charakterisieren wird: diese Betriebsamkeit für die Sache Gottes und das Wohl der Brüder wird dabei eine große Rolle spielen. Man wird unsre Zeit vielleicht die Zeit der „innern Mission" nennen. Noch zwei Charakterzüge aber dürfen nicht fehlen, wenn die sittliche Denkweise der Gegenwart dargestellt werden soll; das ist das Bewußtsein von der Bedeutung der großen Gemeinschaften, Volk, Staat, Kirche, Gesellschaft, in die uns Gottes Wille gestellt hat, und dabei die Wertung der Individualität, mit welcher der Einzelne für sich selbst wie für die Gemeinschaft etwas besonderes zu bedeuten hat. Adolf Wagner in Berlin hat an bedeutsamer Stelle erklärt, zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft das richtige