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20 lichen Sitte stehen und ihr ihre Richtung anwiesen, indem sie ihrer Zeit ihren Charakter aufprägten und durch die Zeiten hindurch weiter wirkten: Männer wie die Alexandriner, wie Augustin, der der Kirche ihren Weltberuf zeigte, dessen Buch „Vs eivituts Vai" förm lich das Programm der folgenden Zeiten entwickelte, — wie Gregor der Große, Gregor VII., Franz von Assisi. Das sind die die sittliche Denkweise der Christenheit in dem ge nannten Zeiträume schaffenden und weiterbildenden Faktoren: das Wort des Evangeliums, die geschichtliche Lage, die dadurch erzeugte allgemeine Stimmung, große Persönlich keiten von durchschlagendem Wirken. Sie stehen nicht gleich bedeutend oder gar gleichberechtigt nebeneinander, aber sie greifen ineinander ein und vereinigen sich so zu einer Gesamtwirkung, deren Ergebnis wir zu skizzieren versucht haben. Wir haben in diesem geschichtlichen Gange doch wohl vor allem des Herrn Willen zu erkennen und zu ehren. Sollte und wollte das Evangelium die heilbringende Offenbarung Gottes für alle Zeiten und alle Geschlechter sein, so mußte es auch in das geschichtliche Leben der Welt eintreten. Und so sollte es auch seine sittliche Anschauung auf dem Wege der Lebenserfahrung entfalten, so wie sich die Fragen und Aufgaben geschichtlich in den Weg legten. Es liegt das in der Natur des Sittlichen selbst begründet. Auch der Einzelne entfaltet den Schatz sittlichen Lebens, den er in sich trägt, nicht auf dem theoretischen, sondern auf dem praktischen Wege; nicht indem er für alle möglichen Fälle, Lagen und Aufgaben von vornherein die fertige Entscheidung trifft, sondern indem die Fälle, Lagen, Aufgaben an ihn herantreten und er sie in sich durchlebt. Erst so lernt er sie wahrhaft verstehen und würdigen. Die sittliche Aufgabe will eben in jedem Augenblick, auf jedem Punkte von neuem verstanden und gelöst sein. Wer wüßte das nicht? Und wer wüßte es nicht, daß, so schmerzlich ihm das ist, da immer wieder Verfehlungen vorkommen, auch da, wo er mit sich ganz fertig zu sein meinte? Kommt doch dabei auch unser innerer Mensch nicht ungehemmt und ungebrochen zum Ausdruck: wir tragen unsern Schatz in irdenen Gefäßen und sind von den Menschen, den Umständen um uns her beeinflußt. Es ist eben die hohe, heilige Aufgabe des Christenlebens, uns von diesen zufälligen, hemmenden,