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18 schweigen. Lustlos, willenlos, tugendlos sein, das bezeichnet den Höhepunkt der Gemeinschaft mit Gott; denn in solcher Gelassenheit, wie es die Mystik nennt, kann die Seele von Gott ganz erfüllt, völlig gesättigt werden. Auch so evangelisch gehaltene Schriften, wie die „Deutsche Theologie" und die „Nachfolge Christi", tragen bekannt lich die Spuren solcher Anschauung. Bleiben wir hier einen Augenblick stehen. Der dem Christen tum wesentliche Gedanke der Weltverneinung hat im Laufe der Ge schichte eine Beränderung, eine Verschiebung erlitten. Es ver neint die Welt, weil und soweit sie dem Willen Gottes ungehorsam widerstrebt und darum im Argen liegt; und es fordert deswegen die Weltverleugnung, nämlich daß man in Kraft des Geistes Gottes allem absage, was mit seinem Willen in Widerspruch steht, und so der Gesinnung nach ein neuer, Gott geheiligter Mensch werde. Der Gedanke ist dahin gewendet worden, daß zwischen dem Wesen des endlichen, sinnlichen Menschen und dem Wesen des unendlichen geistigen Gottes ein Widerspruch bestehe, der aufgehoben werden müsse, indem der Christ über sein endlich-beschränktes, leiblich-sinnliches Wesen sich erhebt, um sich so in das unendliche Wesen Gottes zu ver senken. Das ist in der alten und mittelalterlichen Kirche die allgemeine Richtung, die sittliche Grundstimmung, die allenthalben durchbricht. Wohl haben sich je und je einzelne Stimmen erhoben, die zu den alten evangelischen Grundsätzen zurück wiesen, wie etwa Jovinian in der zweiten Hälfte des vierten Jahr hunderts; allein es blieben vereinzelte, verhallende Stimmen. Oder wenn bei einem Schriftsteller im einzelnen Falle eine solche Er kenntnis durchbricht, so ist sie wie ein vorübergehender Lichtblick; die ganze Richtung und Stimmung wird dadurch nicht verändert. Über die positive Stellung des Christen zu den weltlichen Lebens gebieten und -gütern tritt einem überhaupt eine große Unsicherheit des Urteils entgegen, sowohl wenn man die Väter untereinander vergleicht, als wenn man die Aussprüche eines und desselben neben einander stellt. Es ist eben eine bekannte Erfahrung, daß im sitt lichen Leben nicht bewußt und klar erfaßte Grundsätze die ent scheidendste Macht üben, sondern Gefühle, Stimmungen. Wenn wir das schon im Einzelleben erfahren, so gilt es in erhöhtem Maße