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ZUR EINFÜHRUNG Maurice Ravel wurde am 7. März 1875 in dem südfranzösischen Städtchen Ciboure geboren. Der Vater stammte aus der Schweiz, die Mutter aus dem spanischen Baskenland. Kurze Zeit nach der Geburt des Sohnes siedelte die Familie nach Paris über. Man hatte Verständnis für die musikalischen Neigungen von Maurice. Er erhielt ab 7. Jahr Unterricht im Klavicrspiel und in Harmonielehre am Konservatorium, schließlich bei Anthiomc: Klavier und Beriot: Komposi tion. Von seinen Kompositionen sind am bekanntesten: ]eux d'eau (Wasserspiele), Alborada del Gracioso (Tagesbeginn des Spaßmachers aus den MiroiZr-Spicgelcien), Ma mere I' oye(Mutter Gans), Valses nobles et sentimentales (Würde- und gefühlvolle Walzer) für Klavier, Histoires naturelles (Naturgeschichten) für Gesang und Klavier oder Orchester, die Orchesterwerke LLapsodie Espa- gnole (Spanische Rhapsodie) und der Bolero, die bühnendramatischen Werke Llbeure espagnole(XDie Spanische Stunde) und Lienfant et les sortileges (Das Zauberwort). „Die unmittelbare und klare Sprache, die tiefe und verborgene Poesie zogen mich seit langem an“, sagte Ravel als Begründung dafür, daß er die 5 Lieder Histoires naturelles von Jules Renard komponierte. Um das richtig zu verstehen, muß man von den kapriziösen Eigenheiten Ravels wissen. „Das sonst künstlerisch ausgesuchte Heim Ravels war ein Museum von künstlichen Wundern und wahrhaften kleinen Greueln geworden. Mechanische Nachtigallen und andere Tierchen und Blumen und Tänzer, Schiffe aus Glas, die ein geheimnisvoller Handgriff über Wellen aus bemaltem Papier tanzen ließ, nicht zu reden von dem zierlichen Miniatur-Kanapee aus Porzellan!“ berichteten die Zeitgenossen. Und in den Ohren des erwachsenen Kindes Ravel klang die „ewige Taschenuhr“ der Grille (grillon) noch ebenso geheimnisvoll-übernatürlich. Wir vermögen heute kaum zu begreifen, daß die Histoires naturelles, dieses gefällige Werk, in dem sogar der Humor sich in reine Musik auflöst, die Ohren und den Geschmack der ersten Hörer so heftig beleidigt haben soll: Die erste Aufführung in der Societe Nationale de musique rief einen wahren Skandal hervor. Freilich gehörte Ravel zum Kreise um den Komponisten Faure, der die Societe Musicale Independante (= unabhängige Gemeinschaft) gründete und im künstlerischen Gegensatz zur Societe Nationale stand. 1. Der Pfau Bestimmt wird heute seine Hochzeit sein. Auf gestern hatte er gehofft. In seiner ganzen Gala stand er bereit und wartet’ nur auf seine Braut. Sic aber kam nicht. Wie kann sie zögern! Mit Stolz geht er einher in der Haltung eines indischen Prinzen, trägt mit sich Geschenke wie üblich. Die Liebe belebt den Glanz seiner Farben und sein Rad erzittert wie eine Lyra. - Die Braut jedoch kommt nicht. Er steigt hinauf aufs Dach und betrachtet die strahlende Sonne. Er stößt einen lauten Schrei aus: Leo! Leo! So rufen sie seine kleine Braut. - Noch immer sieht er nichts, und niemand gibt Antwort. Das andre Hühnervolk hebt nicht einmal die Köpfe. Es ist’s leid, ihn zu bewundern. Er aber steigt hinab, ganz sicher seiner Schönheit und ohne jeden Groll. Die Hochzeit wird also morgen sein. Und ohne zu wissen, was tun mit diesem Tage, wendet er sich hin zu der Treppe. Er besteigt die Stufen wie die Stufen zum Tempel, feierlichen Schritts. Er erhebt die schwere Schleppe seines Kleides und kann den Blick nicht wieder davon wenden. - Er wiederholt noch einmal die Zeremonie. 2. Die Grille Jetzt ist die Zeit, da, müd’ des Schweifens, die schwarze Grille von ihrem Ausflug kommt. Mit großer Sorgfalt bringt sic ihr Nest in Ordnung. Zuerst ebnet sic ihre engen Wege im Sand. Sie entfernt die Sägespäne von der Schwelle ihrer Wohnung. Sic feilt ab die Wurzeln jenes großen Krautes, die sie behindern könnten. Sie ruht sich aus. Dann zieht sic ihre kleine Uhr auf. Ist sic fertig? Ist sic ermattet? Wieder einmal ruht sie sich aus. Sie geht zurück ins Haus und schließt die Tür. Sehr lange dreht sie den Schlüssel in dem winzigen Schloß. Und dann lauscht sic. Nichts zu hören da draußen. Aber sie fühlt sich nicht ganz sicher. Und wie an einem Kettchen, dessen Ringe klirren, steigt sic tief hinab unter die Erde. Man hört nun nichts mehr. Auf der schlafenden Flur richten die Pappeln ihre Zweige wie Finger hoch und deuten auf den Mond. 3. Der Schwan Er gleitet über den Teich wie ein weißer Schlitten, von Gewölk zu Gewölk. Denn ihn hungert nur nach den flockigen Wolken, die entstehn, entfliehn und im Wasser vergehn. Die eine will er haben. Er zielt auf sie allein, und dann plötzlich taucht er den weißen Hals ins Wasser. Dann, wie die Frau den Arm aus dem Ärmel zieht, zieht er ihn zurück. Er hat nichts. Er blickt hin: Doch die flüchtigen Wolken sind verschwunden. Er verweilt nur einen Augenblick enttäuscht, denn die Wolken zögern noch zurückzukehren, und sieh da! wo leise des Wassers Wellen sterben, da bildet sich eine jetzt neu. Und ganz sanft, auf seinem leichten Fcdcrklcide, gleitet der Schwan und kommt näher. Doch vergebens erschöpft ihn die Jagd nach den Schatten und sterben kann er als Opfer des Wahns, ohne zu haschen ein Stückchen vom Gewölk. - Was sag’ ich nur? Jedes Mal, wenn er taucht, wühlt er mit dem Schnabel im nahrhaften Schlamm und fängt einen Wurm. Er wird dick wie ’ne Gans! 4. Der Eisvogel Nicht der kleinste Fisch heut’ morgen, doch ich erfuhr ein seltenes Glück. Als ich ruhig meine Angelrute hielt, kam ein kleiner Eisvogel und setzt’ sich drauf. Kein Vogel bei uns glänzt so sehr wie er. Er ähnelt einer blauen Blume an einem langen Stiel. Die Rute beugt’ sich unter ihm. Ich atme nicht mehr, ganz stolz, daß dieser Vogel mich hielt für einen Baum. Und ich bin sicher, daß er nicht davonflog aus Furcht, sondern im Glauben, einfach zu fliegen von einem Zweig zum andern. 5. Das Perlhuhn ’s ist die Bucklige meines Hofes. Es träumt nur von Wunden, weil cs bucklig ist. Die Hühner tun ihm nichts zuleid. Auf einmal stürzt cs sich auf sic, um sic zu quälen. - Dann senkt cs den Kopf, beugt sich vor, und so schnell cs seine magern Beine tragen, rennt cs, schlägt seinen harten Schnabel mitten hinein in das Rad der Truthenne. Das eitle Ding reizte cs. Und so, den Kopf schon zerbleut, mit gesträubtem Gefieder, kampfbcscsscn wütet es vom Morgen zum Abend. Es schlägt sich ohne Grund, vielleicht weil cs immer glaubt, daß man sich mokiert über seinen Wuchs, seinen kahlen Kopf und seinen kurzen Schwanz. Und dauernd stößt cs seinen mißtönen den Schrei aus, der die Luft durchdringt wie ein Speer. Manchmal verläßt cs den Hof und läuft hinaus. Es läßt das friedliche Federvieh mal kurz in Ruh. Doch es kommt zurück, wütender noch mit gellendem Schrei. Und außer sich wälzt cs sich am Boden. Was hat cs nur? Tückisch spielt es eine Posse. Eben hat es auf dem Feld dort gelegt sein Ei. Ich kann’s suchen, wenn cs mir Spaß macht. Uns cs wälzt sich in den Staub wie eine Bucklige. (Deutsch von Dr. Ludwig Ucberfeldt) Ernst Hermann Meyer wurde 1905 in Berlin geboren. Seine musikwissenschaftliche Bildung holte er sich bei den Fachgelehrten Wolf, Schering, Blume und Sachs und promovierte 1930 zum Dr. phil. bei Bcssclcr in Heidelberg. Die praktisch-musikalischen Kenntnisse als Komponist verdankt er dem Studium bei Max Butting, bei Paul Hindemith und vor allem bei Hanns Eisler. Bereits 1929 kam er in Berührung mit der Arbeiterbewegung, die für seine künstlerischen Ab sichten ausschlaggebend wurden. Nach der schweren Emigration in England bis 1948 lebt er heute als Direktor des Musikwissenschaftlichen Instituts der Humboldt-Universität und als Mitglied der Deutschen Akademie der Künste in Berlin. Von seinem vokalen Schaffen sind am bekanntesten „Das Mansfcldcr Oratorium“, der „Flug der Taube“, das „Tor von Buchenwald“, Kinderlicdcr und Massenlieder. Seine „Sinfonie für Streichorchester“ wurde kürzlich von der Philharmonie und dann von dem Staatsopernorchestcr außerordentlich erfolgreich gespielt. Konzert für Klavier und Orchester Der erste Satz des Konzertes ist der weitaus umfangreichste des Werkes. Ganz symphonisch angelegt (er ist fast wie eine Sinfonia concertante für Klavier und Orchester), gliedert er sich deutlich in drei Teile, von denen der erste lyrisch und elegisch gehalten ist. Ein tastendes, lang-