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steiler Sir George Grove. Brahms, der sich ebenfalls mit Plänen trug, die Sinfonie in E zu instrumentieren, war wütend über diese Schenkung. In einem Brief an seinen Freund Joachim bat er den Geiger, dieser möchte doch bitte die „Unzucht“ verhindern, daß irgendein kleiner Nichtskönner die Partitur vollende. Das Werk wurde schließlich 1883 von John Francis Barnett vervollständigt, der auch einen Klavierauszug für zwei Hände herausgab. I)a „in der ganzen 170 Seiten umfassenden Handschrift die Gestalt der Sym phonie in allen wesentlichen Hauptzügen und vielen Einzelheiten festgelegt war“, erfolgte 1934 oine Neuinstrumentierung durch Felix Weingartner, dessen Hauptbestroben es war, „Schuberts ursprüngliche Absichten so rein und unverfälscht als möglich wiederzugeben“. Der zweite und dritte Satz wurden ohne Änderung übernommen, lediglich die Ecksätze erfuhren eine Straffung. Die Sinfonie beginnt mit einer Adagio-Einleitung, die von geheimnisvoller Moll-Stimmung durchwoben ist. Daran schließt sich das Allegro an, aus dem weniger das Vorbild Beethovens als die Einflüsse der italienischen Musik zu erkennen sind. Und doch bleibt jener typisch Schubertsche Eigenklang er halten, wie wir ihn auch von den arideren Werken des Meisters her kennen. Das zweite Thema erklingt in G, die Coda in C — nach Einstein „alles im Wechsel zwischen Erregung und Kantabilität“. Der zweite Satz ist einmal treffend „die Krone des Werkes“ genannt und mit dem herrlichen Andante aus Schuberts „Oktett“ verglichen worden. Eine ruhig fließende 6 / s -Melodie im lichten A-Dur eröffnet den Satz. Glück, leichte Trauer und Nachsinnen orgebon (ausgeprägt im Mittelteil fis-Moll) einen wunderbar persönlichen Zusammenklang. Der Weg zu Schuberts letzter Sinfonie, der großen in C-Dur, scheint nicht nur an einem Punkte vorgezeichnot. Klingt nicht an einigen Stellen die reife Meisterschaft dieser „zehnten“ Sinfonie schon auf? Konzentriert gearbeitet das Scherzo. Das Trio streift die Bereiche der Volks musik. Fast werden wir an einen Ländler erinnert. Im letzten Satz klingen lyrisch-gemütvolle Töne auf, die entfernt an Haydn gemahnen, aber auch Anklänge der italienischen Musik lassen sich nicht überhören: Und doch, an ein paar Wendungen und Modulationen erkennen wir, daß nur Schubert diese Musik schreiben konnte! Das Orchester der Büttnerschen Sinfonie ist ins Riesenhafte ausgeweitet: Flöten, Oboen und Klarinetten sind vierfach besetzt, neben vier Posaunen und drei Trompeten finden wir noch zwei Flügelhörner, vier Horntuben und zwei Baßtuben verzeichnet, und außer zwei Harfen und Pauken werden noch kleine Trommel, Rolltrommel, große Trommel, Glockenspiel, Triangel, Becken und Tamtam verlangt. Die Gedanken- und Empfindungswelt des modernen Menschen ist reicher und zugleich differenzierter geworden, eine musikalische Widerspieglung dieser Welt verlangt neue Ausdrucksmöglichkeiten, unerhörte Steigerungen und vielfältig gestufte Zwischenfarben. Das Richard-Strauss-Orchester der Jahr hundertwende erleichtert das Bestreben der Komponisten, dieses Neue mit den Mitteln des modernen Orchesterklanges in Musik umzudeuten.