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Der ausgedehnte erste Satz ist trotz seiner Einschübe von lyrischen Episoden nach der klassischen Form des Konzertes gebaut: ein großartig-majestä tisches erstes Thema wird abgelöst von einem empfindsamen, lyrischen Thema, das den stärksten Gegensatz bildet. In der Auseinandersetzung dieser Kontraste erschöpft sich dann dieser gewaltige Satz, in welchem eine große Kadenz dem Solisten Gelegenheit gibt, sein Können nach allen Seiten hin schillern zu lassen. Schlichte, aber innige Melodien erklingen im langsamen zweiten Satz, die nach allen Möglichkeiten hin verändert und variiert werden. Dieser Satz ist kammermusikalisch instrumentiert und bildet dadurch ein Gegengewicht gegenüber dem orchestralen vollen Klang sowohl des ersten, als auch des nun folgenden dritten Satzes, der mit Feuer und tänzerischer Leidenschaft abrollt. Durch seinen mitreißenden Schwung und die pracht volle Brillanz, durch seinen stürmischen Optimismus überzeugt er jeden Menschen von der Fülle des Daseins, die sich Tschaikowskij aus dem über quellenden Born seines Volkes schöpfen konnte. Tschaikowskijs 6. Sinfonie seine letzte, nennt er selbst die „Pathetische“. Er ist echter Romantiker in diesem Werk, in welchem er mit großem Pathos, also mit einem gewissen Überschwang, seine ihn schmerzlich bewegenden Gefühle zum Ausdruck bringt. Die Sinfonie ist Darstellung seines Innenlebens, sie ist reiner Indivi dualismus, sie ist ichbetont. Sie ist ein Bekenntnis seiner glühenden Seele, das aber vom damaligen Adels- und Bürgerpublikum in Petersburg zur Uraufführung ziemlich gleichgültig und uninteressiert aufgenommen wurde (1893). Es war das Publikum, an das sich Tschaikowskij im zaristischen Ruß land allein wenden konnte, denn der Arbeiter und der Bauer waren in der damaligen gesellschaftlichen Situation von diesen künstlerischen Ereignissen ausgeschlossen. Das Neuartige an diesem Werke ist die Anordnung der Sätze, indem nämlich Tschaikowskij es wagt, das Adagio, den langsamen Satz, von seinem üblichen Standort als zweiten oder dritten Satz wegzunehmen und ans Ende zu setzen. Anscheinend ist ihm diese Kühnheit von dem konserva tiven Publikum seiner Zeit verübelt worden. Die dadurch entstandene Pro blematik war jenem genußsüchtigen Publikum des Jahrhundertendes schon zuviel. Tschaikowskij hält sich in Hinsicht auf die Form der einzelnen Sätze ziemlich streng an das klassische Schema; allerdings ist der Inhalt ausgespro chen romantisch. Das Gefühl überwiegt, eine leidgesättigte Seele schreit ihre Qual in die Welt hinaus. Die Musik ist im letzten Sinne pessimistisch, woran auch die Ausbrüche von Trotz und Drohung nichts ändern. Erschütternd ist der Schluß, ein Lamento, ein Klagegesang eines Vereinsamten. Das Werk ist eigentlich eine Anklage gegen die damalige gesellschaftliche Situation. Man vergißt leider sehr leicht diesen Ausgangspunkt, man sieht in ihm, allerdings mit Recht, ein Gipfelwerk der russischen Romantik, losgelöst vom gesell schaftlichen Hintergrund. J. P. Th. Literaturhinweis: Iwan Knorr: Peter Tschaikowskij • Keller: Peter .Tschaikowskij Textliche Mitarbeit: Joh. Paul Thilman und Gottfried Schmiedel