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ZUR EINFÜHRUNG Es ist ungewöhnlich, daß ein Komponist zu seinem eignen Werk die Einführung schreibt. Aber in der Neuen Musik ist vieles ungewöhnlich — und man muß sich daran zu gewöhnen versuchen. Das Sin fonische Fragment op. 48 ist 1950 geschrieben wor den. In ihm drückt sich das aus, was für die Jahr hundertmitte maßgeblich ist. Man fragte mich, war um dieses Werk „Fragment“ sei. Dafür gibt es mehrere Antworten. Zunächst glaube ich, daß heute ein einzelner die Aufgaben unserer Zeit gar nicht mehr allein lösen könne, sondern daß er nur einen Beitrag zu liefern imstande sei — und daß aus der Erfahrung vieler Komponisten später einmal die Summe gezogen werden könne. Darum wird die Lei stung des einzelnen zunächst notwendig Fragment bleiben, aber eben positives Fragment. Zum zweiten versuche ich die bisher übliche Sinfonieform ab- zuändem, weil ich glaube, daß das bisher übliche Schema gar nicht mehr zuläßt, alle jene Spannungen, die der Menschheit heute zu erleben aufgegeben sind, in sich aufzunehmen. Das Werk gliedert sich in fünf ganz klar erkennbare und unterschiedene Teile, die pausenlos aufeinanderfolgen. Wem mit program matischen Hinweisen gedient ist, kann aus den ein zelnen Teilen folgendes heraushören: erstens einen strengen, ernsten Tanz, zweitens einen Teil, der von einem unbändigen Drang nach Tätigkeit, nach Ar beit erfüllt ist, drittens eine monotone Klage, vier tens ein Stück voller Unrast und Hast und endlich fünftens den Versuch, einen getragenen aber opti mistischen Hymnus zu schreiben, der mit seinem vollen Ausklang das Vertrauen auf die Zukunft aus- drücken will. Um die Einführung abzurunden, muß ich noch sagen, daß ich 1906 in Dresden geboren bin und daß ich Johannes Paul Thilman heiße. Bei der Nennung des Namens Jean Sibelius denkt der Hörer zunächst und in erster Linie an seine sinfonischen Dichtungen, die ihm zur Weitberühmt heit verhalten. Aber Sibelius hat auch als Komponist der absoluten Musik ihren Tribut gezollt und Werke geschaffen, die seine meisterliche Größe verraten. Das Violinkonzert op. 47 in d-moll ist ein solches Werk von absoluter Haltung, das also versucht, durch musikalische Wirkungen allein den Hörer an zusprechen. Das Violinkonzert ist dreisätzig. Der erste Satz hat zwei große musikalische Gedanken, die sich deutlich voneinander abheben. Das erste Thema erscheint am Schlüsse wieder, es wird von der Violine vor einem flimmernden d-moll-Hintergrund vor getragen. Das zv/eite hat sinfonischen Charakter und wird vom ganzen Orchester ausgesprochen. Der lang same zweite Satz hat eine herb-impressionistische Farbe — aber die Violine kann zu Beginn und am Ende dieses Satzes schöne melodische Einfälle aus singen. Der Schlußsatz wird vom Rhythmus ge tragen, dessen unermüdliches Pochen durch den ganzen Satz hindurch zu hören ist. In der Musik des Finnen Sibelius ist immer etwas von der Größe und Einsamkeit der finnischen Landschaft und der Ver schlossenheit des finnischen Volkes zu spüren — auch in diesem Werk absoluten Musizierens steckt dieses Gefühl der Verbundenheit mit den volks tümlichen Kräften drin. Tschaikowskijs VI. Sinfonie, seine letzte, nennt er selbst die „Pathetische". Er ist echter Romantiker in diesem Werk, in welchem er mit großem Pathos, also mit einem gewissen Überschwang, seine ihn schmerzlich bewegenden Gefühle zum Ausdruck bringt. Die Sinfonie ist Darstellung seines Innen lebens, sie ist reiner Individualismus, sie ist ich- betont. Sie ist ein Bekenntnis seiner glühenden Seele, das aber vom damaligen Adels- und Bürgerpublikum in Petersburg zur Uraufführung ziemlich gleichgültig und uninteressiert aufgenommen wurde (1893). Es war das Publikum, an das sich Tschaikowskij im zaristischen Rußland allein wenden konnte, denn der Arbeiter und der Bauer war in der damaligen gesellschaftlichen Situation von diesen künstle rischen Ereignissen ausgeschlossen. Das Neuartige an diesem Werke ist die Anordnung der Sätze, indem nämlich Tschaikowskij es wagt, das Adagio, den langsamen Satz, von seinem üblichen Standort als zweiten oder dritten Satz wegzunehmen und ans Ende zu setzen. Anscheinend ist ihm diese Kühnheit von dem konservativen Publikum seiner Zeit ver übelt worden. Die dadurch entstandene Problematik war jenem genußsüchtigen Publikum des Jahr hundertendes schon zuviel. Tschaikowskij hält sich in Hinsicht auf die Form der einzelnen Sätze ziem lich streng an das klassische Schema; allerdings ist der 'Inhalt ausgesprochen romantisch. Das Gefühl überwiegt, eine leidgesättigte Seele schreit ihre Qual in die Welt hinaus. Die Musik ist im letzten Sinne pessimistisch, woran auch die Ausbrüche von Trotz und Drohung nichts ändern. Erschütternd ist der Schluß, ein Lamento, ein Klagegesang eines Ver einsamten. Das Werk ist eigentlich eine Anklage gegen die damalige gesellschaftliche Situation. Man vergißt leider sehr leicht diesen Ausgangspunkt, man sieht in ihm, allerdings mit Recht, ein Gipfelwerk der russischen Romantik, losgelöst vom gesellschaft lichen Hintergrund. Johannes Paul Thilman