Volltext Seite (XML)
Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine „Schottische Sinfonie“ Es ist noch gar nidit solange her, daß es als selbstverständlich für den ehren festen musikalischen Fortschrittsmann galt, bei der Erwähnung Mendelssohns gering schätzig, überlegen zu lächeln. Und so mancher Bildungsphilister fühlt sich heute noch dazu verpflichtet. Im allgemeinen aber darf man jetzt von einem Umschwung sprechen, der sich teils aus einer durch die zunehmende historische Distanz erwadisen- den Objektivität, teils aus einer gewissen inneren Verwandtschaft unserer Zeit mit der Mendelssohns erklärt. Es kann für den aufmerksamen Beobachter gar keinem Zweifel unterliegen, daß wir uns wieder einer stark formalistisch empfindenden Epoche nähern, daß wir Reinheit und Ebenmaß der Form mehr als die letztver- gangenen Jahrzehnte würdigen und daher auch die Reize klarer, kunstvoll ornamen tierter melodischer Konturen besser zu schätzen wissen. Verbindet sich mit diesen Vorzügen ein so zartes, poetisches Emp findungsvermögen und ein so feinkulti vierter instrumentaler Farbensinn wie bei Felix Mendelssohn, so haben wir alle Ur sache, die harmonische Ordnung dieser Gabe zu bewundern und die damit ver bundenen Schwächen einer gelegentlichen Flachheit oder schwärmerischer Sentimen talität als Zeitingredienzien mit in Kauf zu nehmen. Nietzsdies Auffassung, die den „apolli nischen Meister“ Mendelssohn als den „schönen Zmischenfall der deutschen Mu sik“ bezeichnet, läßt auf einen unendlichen Reidituin der deutschen Musik, in der neben Beethoven — als dem Gipfel der Entwicklung der Musik — audi solche Aus erwählte Platz haben, die die Synthese des musikalisdien Kunstwerkes vollständig be herrscht und vergeistigt haben. Und dazu gehört audi Mendelssohn. Genie oder Epi gone? Man weiß die Antwort: der seltene Mensch (und das war Mendelssohn als sol cher unbedingt) war auch der seltene Meister. Widerspruchsvoll ist das Wesen dieses Genies. Es bleiben Lücken, die nidit bewiesen werden können. Und andere brauchen gar nicht bewiesen zu werden. Auch in der Kunst hat nur das Lebende recht. Und daß Mendelssohn neben den andern Großen in der Musik zu den Leben den, den immer noch Lebenden zählt, dies beweist die Zeit, die uns in gewissem Sinne von einer „Mendelssohn-Renaissance“ sprechen läßt. Felix Mendelssohns künstlerische Ge samterscheinung läßt sich nicht ausschließ lich aus seinem musikalischen Schaffen be urteilen, denn sein Wesen erschöpfte sidi keineswegs im rein Musikalischen. Man muß seinem Leben nadispüren, muß vor allem seine feinen, sprachlich gepflegten Briefe kennen, um das Umfassende seines Geistes und seiner Bildung, das wirklich Kulturvolle seiner sympathischen Gesamt erscheinung zu erkennen. Es ist durchaus begreiflich, daß gerade Nikisch mit seiner feinen Witterung für ästhetisches Aristo- kratentum und auf Grund der in ihm selbst pulsierenden Wärme eines hochge stimmten, reinen, gütigen und großen Menschentums sich zu seinem großen Ge wandhausvorgänger Mendelssohn hinge zogen fühlte. Und heute — wo längst der von Richard Wagner gegen Mendelssohn geschleuderte Bannfluch unwirksam ge worden — liegt gar kein Anlaß vor, den Sinfoniker Mendelssohn wie ehedem auf halbe Ration (neben seinen genialen Kon zert-Ouvertüren, der niemals wieder ge schriebenen „Sommernaditstrauni“-Musik u. a.) zu setzen oder ihm den gebührenden Platz überhaupt vorzuenthalten. Dieser Platz ist durchaus benachbart demjenigen der Großmeister der deutsch-romantischen Musik. Denn es bedeutet zweifelsohne eine Unterschätzung Mendelssohns, wenn man an seinen Sinfonien immer nur die Flüssig keit und Formglätte, die weltmännische Verbindlichkeit und Gewandtheit seiner Diktion hervorhebt und sidi dabei der Tat- sadie versdiließt, daß zu den großen for malen Vorzügen dieser Werke sich im allgemeinen eine starke Leidensdiaftlidikeit und Naturempfindung, eine passionierte Liebe zu künstlerisdier Wiedergabe fein hörig aufgenommener Volksgefühle, eine empfindsame, in Sdiwingungen versetzte Poesie und im besonderen eine ganz meisterliche und eigenartige Behandlung des Ordiesters gesellen. Dies alles gilt besonders von der „Schottischen Sinfonie“ (Nr. 3, A-Moll, op. 56), in der Mendelssohn abermals in den Stimmungskreis seiner „Itebriden“- Ouvertüre — er sammelte ihn als Jüngling gelegentlich einer ausgedehnten England- fahrt im schottisdien Hochlande und an der zerklüfteten Fjordküste — eintritt und die in allen vier Sätzen eine Fülle warm emp fundener, geist- und gemütvoller Musik enthält: einer Musik, die freilidi von einer wohlgepflegten Straße nicht abwegig in die Unwirklidikeiten der Experimente führt, die aber auch in ihrem Wege Ge legenheit zu besonders pittoresken Aus blicken nidit selten findet.