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Große Meisterwerke der Kunst wurden in den verschiedenen historisdien Perioden stets verschieden aufgefaßt. Jede große Kunstepoche hat ihre eigene Auffassung von Welt und Dingen, und die Anschauung der Meisterwerke wechselt mit den Erleb nissen der Epoche. Die Renaissance be trachtete die antike Skulptur anders als die Zeit Goethescher Klassik und der Ro mantik. Und wir beschauen sie heute wie der in anderem Begreifen. Besonders stark tritt das zu Tage, wenn die Kunst inter pretiert werden muß. Also vor allem in der Tonkunst. Wenn man hier allerdings der zeitlich bedingten Auffassung die ..historisch richtige“ als kritischen Maßstab entgegenstellt, so wird direkt die Frage akut: sollen Meisterwerke überhaupt be arbeitet werden? — Ein klassisches Beispiel hierfür ist Bachs „Matthäuspassion“. Hundert Jahre lang nach ihrer Entstehung blieb sie un bekannt und unaufgeführt, Mendelssohn fand das Manuskript bei einem Althänd ler, führte das Werk auf, und offenbarte es der Welt. Der Romantiker Robert Fjanv. überarbeitete die Partitur nach den Ge danken der Romantik, komponierte Kon trapunkte hinzu, romantisierte Melodien und gab einschneidende klangliche Um änderungen (sie waren den Musikern der romantischen Zeit eben Notwendigkeit, um den „veralteten Vater Bach“ genießbar zu machen). Kein Mensch spielt aber heute noch die Franzsche Bearbeitung mit ihren Posaunen, Klarinetten und Schlagzeug. Wir hören heute wieder in anderen Begriffen. Wir erkennen heute wieder die ursprüng liche Fassung an — ohne natürlich die Fortschritte der Musiktechnik ganz zu ver gessen. Auch Beethovens „Neunte" hat in man cher Hinsicht ein ähnliches Schicksal erlebt. Jahrzehnte hindurch wird das Werk nach seiner Uraufführung (die zweite Auffüh rung fand in Aachen auf dem Nieder rheinischen Musikfest statt) ganz vereinzelt und dann überhaupt nicht mehr aufgc- führt. Als es Richard Wagner „neuent deckte“ und von einem kleinen Kreis als das große, überragende Meisterwerk erfaßt wurde, hatten die Zeit und Kunstanschau ung sich bereits geändert. Wagner nahm die Aufgabe auf sich, die „Neunte“ wieder dem Publikum zugänglich zu machen. Und daß er dabei — selbst ein weitausladendes Genie — mit seiner starken persönlichen Auffassung ans Werk ging, ist selbstver ständlich. Die Originalpartitur konnte eine Zeit, in der die Errungenschaften der neuen Orchestertechnik durch Berlioz, Liszt und Wagner blühten, nicht mehr befriedigen. Wagner unternahm es daher, eine Reibe von Stellen in der Partitur Beethovens zu bearbeiten. Und seine Wiedergabe der Sin fonie wurde zweifellos für den Kreis der Dirigenten und Musiker, die sich um Wag ner scharten, maßgebend. Es ergab sich so eine lebendige Tradition, die allerdings nicht von Beethoven, sondern von Wagner herrührte. Seit dem Tode Wagners, der kein ande res Werk für würdig hielt, sein Bavreuther Haus einzuweihen, als die „Neunte“, sind nun wiederum mehr als 45 Jahre ver flossen. Die Wagnersche Art, die Sinfonie zu betrachten, wurde wiederum geschicht lich, wie alles, was nicht primär produziert wurde. Die Musiker nach Wagner hielten sich nicht bedingungslos an dessen Korrek turen. Die einen meinten, hier sei noch zu wenig geschehen. Den anderen war es Pflicht, Beethoven „unverfälscht" zu geben. Und so bröckelte die Tradition, die durch Wagners Genialität entstanden war, ab. An ihre Stelle trat die „subjektive Auf fassung“ des Dirigenten. In dieser Epoche befinden wir uns noch heute. „Subjektive Auffassung“ ist unbestrit ten wertvoll. Nur öffnet sich hier leicht der subjektiven Willkür die Türe. Das ist be denklich. Man sucht den eigentlichen Ge halt des Werkes zu überschatten. Solange die Struktur der Totalität wuchtig gewahrt bleibt, ist nichts gegen die subjektive Auf fassung zu sagen. Sobald aber die „Hyper trophie der Einzelheiten“ Platz greift, maß lose Uebertreibung der Dynamik, Ritar- dandi und Accelerandi, die nicht vorge- sdirieben sind, Herausarbeiten gesuchter Wirkungen, poetische Schilderungen und „musikalische Einfälle“, die ursprünglich gar nicht vorhanden sind, wird das Schaf fen unserer Zeit bedenklich. Es wäre der größte Fehler eines modernen Dirigenten, wenn er sich über die Metronomangaben, die der Meister mit größter Sorgfalt seiner Partitur beigegeben und derentwegen Beethoven bei der Uraufführung dem Diri genten assistierte, einfach hinwegsetzen würde. Wer heute zu der „Weisheit“ kommt, die Vorschriften Beethovens, die klangliche Gestaltung der Partitur seien mangelhaft, ja unrichtig (denn — „Beetho ven war ja taub“), der sollte sich besser die Frage vorlegen, ob nicht er taub ge worden ist für den ursprünglichen Grund gedanken, für die große tonale Architek tur, die der „Neunten“ zu Grunde liegt. Ein Werk, das seiner Zeit so unendlich weit vorausgeeilt war, wie Beethovens „Hymnus an die Freude“, ist gerade in unserer Zeit modern, wenn es „historisch richtig“, cl. li. so, wie es der Meister emp funden hat, interpretiert wird.