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der Stimmungsgehalt der einzelnen Variationen immer wechselnd vom süße sten Schönklang bis zur trotzigen Kraftgebärde, so daß ein ungemein farbiges Bild entsteht. Die Krönung des Ganzen ist aber zweifellos die Schlußfuge. Mit ihrem Einsatz beginnt auch eine andere Welt. In den Variationen vorher die schillernde Vielfalt des Impressionismus — in der Fuge ganz klar und ein deutig der Wunsch und Wille nach einer Kunst, die nicht zerfließt, son dern kraftvoll gebändigt ist. Die Fuge ist eine Doppelfuge, wozu Reger das Material zu beiden Themen dem Mozart-Thema entnimmt. Großartig und überwältigend ist der Schluß, wo Reger, ein Kontrapunktiker größten Formats, das Mozart-Thema noch einmal ganz aufklingen läßt und dazu beide Fugenthemen in das Klanggewebe einflickt. Diese Stelle allein würde genügen, Reger unsterblich zu machen. (ohannes Brahms Seine 1. Sinfonie wurde 1877 veröffentlicht. Die Einleitung zum ersten Satz ist voll größter Spannungen, der Orgelpunkt der Pauke zu Beginn stützt eine Musik von dramatischer Wucht und Erhabenheit. Der Aufbau dieses Satzes ist klassisch, beide Themen sind klar formuliert und deshalb klar zu erkennen. Brahms hat nun. eine eigene Art der Durchführung, die sein Wesen, seinen grüblerischen Ernst und seine spröde Verhaltenheit deutlich erkennen läßt. Der englische Dramatiker Priestley sagt in einem Roman über dieses Werk einmal, daß er den Eindruck habe, daß Brahms mürrisch und grollend in der Ecke stehe und der übrigen Welt den Rücken kehre. Er hat nicht ganz Un recht, weil er mit diesem Bild die Neigung zum Pessimismus, der Brahms niemals ganz Herr werden konnte, andeutet. Auch Clara Schumann sagt ihm selbst in einem Briefe, sie fürchte sich vor der Düsternis und Kantigkeit seiner Seele, die sich gerade in diesem Satz offenbare, der mit dem Orgelpunkt des Beginns wieder abschließt. Der liebliche zweite Satz, der ebenfalls zwei musi kalische Gedanken entwickelt, wird in der Mitte von dramatischen Erregun gen gestört, die keinen inneren Frieden aufkommen lassen. Der dritte Satz ist, ganz entgegen der Gepflogenheit Beethovens, kein Scherzo oder Menuett, sondern ein graziöses Allegretto. Die schlichte Melodie des Beginns, die in ihrer Umkehrung fortgeführt wird, kann aber nicht den Ernst und die Resig nation verhindern, die sich dann in diesem Satz durchsetzt. Gleich dem An fangssatz beginnt auch der Schlußsatz mit einer Einleitung, die mit Spannung und Größe geladen ist. Dann entfaltet sich wiederum echt sinfonisches Ge schehen — Brahms wählt die Sonatenform auch für den Schlußsatz. Das erste Thema mit seinem Anklang an den Hymnus der „Neunten“ steht dem weicheren, lyrischen zweiten Thema gegenüber, so daß sich auch hier drama tische Ballungen ergeben, die jedoch in eine strahlende C-Dur-Coda ein münden, die dem Werk einen sieghaften Abschluß verleiht. Johannes Paul Thilman