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ZUR EINFÜHRUNG Vielen Hörern wird es eine Überraschung sein zu erfahren, daß es vielleicht eine zehnte Sinfonie von Ludwig van Beethoven geben wird, oder besser eine „nullte“, die, ähnlich wie bei Bruckner, vor der wirklichen ersten Sin fonie in C-Dur, op. 21, also vor 1800, entstanden sein müßte. Aber der Entdecker Fritz Stein, der sie in Jena im Notenarchiv des „Akademischen Konzertes“ auf gefunden hat, ist trotz seines scharfsinnigen Nachweises, daß diese bisher unbekannte Sinfonie in C-Dur von Beet hoven sein könnte, doch so vorsichtig, sie mit folgendem Titel zu versehen: „Sinfonie in C-Dur, mit Ludwig van Beethovens Namen überliefert.“ Man nennt heute dieses Werk, das in vielen musikalischen Zügen auf beethovensche Eigentümlichkeiten hinweist, die seiner jugendlichen Schaffensperiode angehören, die „Jenaer Sinfonie.“ Im übrigen aber ist in diesem Werk eine Tonsprache lebendig, die sich auffällig an Mozart und am späten Haydn (vor allem an dessen Londoner Sinfonien D-Dur und C-Dur von 1791 und 1792) orien tiert hat. Dem ersten Satz geht eine breite Orchestereinleitung voraus. Das lebhafte, unisono beginnende Hauptthema im Dreivierteltakt ist klar geprägt und dadurch immer wieder leicht erkennbar — aber es ist eins der damals üblichen Themen. Auch das zweite, lyrische, in großen, tonleitermäßig fallenden Notenwerten geschrieben, ist zwar sehr gleichmäßig geformt, verrät aber noch nichts von der persönlichen Entwicklung, die Beethoven später durchmacht. Der zweite Satz, das Adagio, ist eine Variationenfolge eines gesanglichen, schönempfundenen Themas. Das fol gende Menuett beginnt mit drei majestätischen Takten, die ihm ihren Stempel aufdrücken, während das ein geschlossene Trio einen mehr spielerischen Charakter angenommen hat durch zwei Sologeigen, die den Holz bläsersatz umspielen. Der Schlußsatz wirbelt als ein geistvolles Rondo däher und gibt der „Jenaer Sinfonie“ einen unbekümmerten Abschluß, ohne uns das Geheim nis .geklärt zu haben, ob Beethoven der Komponist dieses Werkes sei oder nicht. 1795 schrieb Beethoven seine ersten beiden Klavier konzerte op. 15 und op. 19, wohl zu dem Zwecke, mit diesen Werken seinen jungen Ruhm in Wien zu bekräf tigen. Am 29. und 30. März 1795 trat er zum ersten Male öffentlich in einer Akademie, so hießen damals die Kon zerte, zu denen jedermann gegen Eintrittsgeld zugelassen wurde, auf. Auf dem Programm stand: „Ein neues Kon zert auf dem Piano-Forte, gespielt von de n Meister Herrn Ludwig van Beethöven und von seiner Erfindung.“ Welches von beiden Konzerten, die er damals zur Ver fügung hatte, von ihm selbst gespielt wurde, wissen wir nicht mehr. Es kann das Konzert op. 19 in B-Dur (damals sagte man: „aus B-Dur“) gewesen sein. Beethoven ist in diesem Werke noch nicht der Beethoven mit seinen Eigentümlichkeiten und Eigenarten, die ihn in' seinen späteren Werken auszeichnen und die seine Ton- sprache so einmalig und unverwechselbar gemacht haben. In diesem Werk ist er durchaus noch Klassiker von Haydn’scher Prägung, in diesem Werk „mannheimert“ er noch, das heißt, daß er die Errungenschaften der Mannheimer Schulen verarbeitet. Es ist aber überall die klassische Ausgewogenheit und das klassische Ebenmaß zu spüren, deutlich zu hören in den 4- und 8taktigen Perioden, in seiner Melodiebildung alsd, die nach 4 oder 8 Takten deutliche Einschnitte in der Melodielinie macht. In einer großen Orchestereinleitung bringt der erste Satz das Themenmaterial, die zwei Themen der Klassik mit allerlei Nebengedanken. Das gehörte zum damaligen Formgefühl. Eine strenge E'orm war in jener Zeit die Voraussetzung für ein großes Kunstwerk. Das Solo klavier bringt spielerische Abwandlungen, die dem Instru ment auf den Leib geschrieben sind. Die Virtuosität erschöpft sich zunächst in Läuferketten, wobei sich vor allem die rechte Hand hervortut. Der erste Satz nimmt die Hälfte der gesamten Partitur ein, womit Beethoven seine Wichtigkeit dartun will. Das Adagio (zweiter Satz) ist voll melodischer Schönheit, während der Schlußsatz, ein Rondo, den lustigen, hei teren, übermütig-ausgelassenen Beethoven zeigt, der er vor seiner Krankheit damals sein konnte. Das Rondo thema fällt durch Betonungen auf, die gegen die übliche Art der Betonung geschrieben sind und gerade dadurch dem Thema seinen kecken Charakter verleihen. Dieser Satz rollt mit einer zierlichen Brillanz ab, die wohl auch schon damals ihre Wirkung nicht verfehlt haben wird. Beethoven führte seine 1. Sinfonie im Jahre 1800 in einem eigenen Konzert seinen Mitmenschen, dein Wiener Konzertpublikum, vor. Die Kritik (wir neh men zu ihren Gunsten an, daß Irren menschlich sei) schrieb damals: „Die. Sinfonie ist ein bis zur Karikatur hinaufgetriebener Haydn.“ Sie spricht weiter von den „ziemlich konfusen Explosionen dreisten Übermutes eines jungen Mannes von Talent“. Heute erscheint uns das „Hinaufgetriebene“ und das „Explosive“ als das eigentlich Beethovens he; es ist das, was uns heute an diesem Werke besonders interessiert. Jedenfalls ging das Werk im Jahre 1800 weit über das Gewohnte hinaus — man sollte aus dieser geschichtlichen Tatsache lernen, Kunstwerken gegenüber nicht zu engherzig zu sein. In diesem opus 21 in Beethovens Schaffen steckt für uns noch nicht ganz der eigentliche Beethoven, der in seiner 3. Sinfonie erst die Töne findet, die seine nur ihm eigene Sprache ausmachen. Die Einleitung zum ersten Satz stieß damals auf heftigsten Widerspruch, weil das Werk nicht in C-Dur, sondern mit dem Septimenakkord der Unterdominanttonart, also mit einer Dissonanz, begann. Dafür ist aber das eigentliche 1. Thema klar in seiner C-Dur-Besessenheit. Das 2. Thema wird zerlegt in gleiche Motive, die abwechselnd Oboe und Flöte auf greifen. In der Durchführung der geistvollen Verarbei tung der beiden Themen, die das klassische Ideal vom Komponisten fordert, beweist der noch junge Beethoven schon eine erstaunliche Meisterschaft der Orchester behandlung. Der zweite Satz hält an der einmal ange schlagenen schlichten, aber poetischen und anmutigen Stimmung bis zu seinem Ende fest. Im Menuett, das an dritter Stelle der Satzfolge steht, wendet sich Beethoven entschieden voirder bis damals üblichen Art, ein Menuett zu komponieren, ab. Für ihn ist dieses Musikstück keii^^^ graziös höfischer Tanz mehr, ebenso auch kein volkf^^A tiimlich-derbes Tanzstück — Beethoven findet hier einei^^^ neuen drängenden und auf Überraschungen bedachten Ton, der damals anstößig und aufreizend wirkte. In dieses Menuett hat er ein der Idylle verhaftetes Trio ein gebaut, an das sich das impulsive Menuett wiederholend anschließt. Eine tolle, lustige, ausgelassene Lebensfreude sprudelt im Schlußsatz, dem Finale. Hier hört jeder die Anklänge an seinen großen Vorgänger, Zeitgenossen und Lehrmeister Haydn. Die Musik dieses Satzes hat etwas ausgesprochen Helles, Durchsonntes an sich, etwas also, was wir bei Beethoven selten wiederfinden. Seinen Reich tum an Witz (das Wort kommt von „Wissen“) beweist Beethoven an einer Fülle von satztechnischen Kombina tionen, die uns zeigen, daß er schon ein meisterliches Handwerk besitzt. Den klassischen Meistern ging es sehr 11m das Plandwerk, das ihnen die Grundlage, für ihre großartigen Schöpfungen bot. Das sollte man von ihnen lernen — und das kann man schon an Beethovens 1. Sin fonie in C-Dur, op. 21, genau sehen und erkennen. Johannes Paul Thi 1 man