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Es gibt viel Musik, die nur durch sich selbst wirken will, nicht durch das, was sie vorstellen soll. Also nicht durch das, was ein Thema ausdrückt, sondern durch die Schönheit des Themas an und für sich. Durch die Verarbeitung dieses Themas. Durch seine Gegenüberstellung mit anderen. Und das ist es, was eigentlich das Wesen der Sinfonie ausmacht. Anders liegt der Fall beim Gesang. Da richtet sich die Musik nach dem Wort. Also sagt uns um gekehrt auch das Wort etwas über die Musik aus. Im Fall der Neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens wird man sich also, wenn man ihrem Verständnis näherkommen will, an den Schlußsatz halten. Da zieht nämlich der Komponist den Gesang herzu. Merkwürdigerweise. Denn die Sinfonie ist eigentlich ein reines Instrumentalstück. Nun kommt zum Orchester der Chor. Es ist, als ob Beethoven die Instrumente allein nicht mehr genügt hätten, um das zu sagen, was ihn bewegte. Wir wissen allerdings aus der Entstehungsgeschichte des Werkes, daß es eigentlich ein Zufall war. Beethoven hatte schon früher eine Sinfonie geplant, in deren Rahmen er Schillers Gedicht „An die Freude“ vertonen wollte. Er ließ den Plan dann wieder fallen und schloß den Chor an die drei im Jahre 1823 komponierten Sätze einer d-moll-Sinfonie, seiner neunten nämlich, an. Trotzdem können wir die Sinfonie von ihrem (gesungenen) Schlußsatz her ver stehen. Als Hymnus an die Freude macht er die ganze Sinfonie zum Lied an die Freude. Der Freudenhymnus selbst gliedert sich in fünf Abschnitte. Ein erster Teil ist aufgebaut auf dem eigentlichen „Freudenthema“, einem breit strömenden Gesang, den der Solobaß über die Worte „Freude, schöner Götterfunken“ anstimmt, in den bald die anderen Solisten und der Chor einfallen. Damit geht es dem ersten Höhepunkt zu: „Und der Cherub steht vor Gott.“ Besonders wirkungsvoll bei der letzten Wiederholung des Wortes „Gott“ der überraschend einsetzende F-dur-Akkord. Der zweite Teil, ein Marsch, ist dem Solotenor anvertraut, dem der Männerchor schließlich zu Hilfe kommt. („Froh, wie seine Sonnen fliegen.“) Große Trommel, Becken und Triangel geben die Orchesterfarbe dazu. Im unmittelbaren Anschluß daran setzt der Chor mit der Wiederholung der ersten Strophe ein. Nach einer Generalpause leiten die Posaunen und die Bässe den dritten Teil ein. („Seid umschlungen, Millionen!“) Das wie aus Marmorblöcken gemeißelte Thema, das zunächst die Männerstimmen des Chors bringen, ist, formal gesprochen, das Seiten thema des Satzes. Es wird weitergeführt durch die Tonsymbolik des „Ihr stürzt nieder“ (man sicht förmlich den Menschen vor der Gewalt des Schöpfers in die Knie sinken) und des in überirdischem Glanze leuchtenden „Über Sternen muß er wohnen“. Im vierten Teil werden schließlich das erste und das zweite Thema, das „Freuden thema“ und das Thema „Seid umschlungen, Millionen“, zu einer gewaltigen Doppelfuge vereinigt. Das ist nicht nur eine formal-kompositorische Steigerung, sondern auch eine gedankliche Konzentration. Die Freude wird verknüpft mit dem Gedanken der Ver brüderung aller Menschen und der Hinlenkung auf Gott. So werden durch die Musik — und nur der Musik ist es möglich, eine solche Verbindung zu schaffen — zwei Ideen, die Idee der Freude und die Idee der Menschenverbrüderung, gleichzeitig zum Ausdruck gebracht. Die eine die Voraussetzung der anderen. Keine Freude ohne Menschenver brüderung, keine Menschenverbrüderung ohne Freude, und alles das im Schutze des „lieben Vaters“, der nun noch einmal angerufen wird. Ein letzter Abschnitt, die Koda, ist noch einmal vielfach gegliedert. Das „Freuden thema“ erscheint zunächst in kleineren Notenwerten und verändert im Orchester, dann setzen die Solisten ein, denen bald der Chor folgt. Immer größer wird der Jubel, noch einmal gibt es einen Ruhepunkt, wenn das Soloquartett in überirdisch schönen Tönen eine freundliche Vision vor uns hinzaubert: „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“ — eine berühmte Stelle, die allen Solostimmen, vor allem aber dem Sopran Gelegenheit gibt, sich prächtig zu entfalten. Dann setzt der Schlußjubcl ein, alles Vorhergegangene in rauschhafter Freude übertreffend. L v. Beethoven : Neunte Sinfonie