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Universitätszeitung
- Bandzählung
- 5.1961
- Erscheinungsdatum
- 1961
- Sprache
- Deutsch
- Signatur
- Z. gr. 2. 459
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1770109730-196100005
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1770109730-19610000
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-1770109730-19610000
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen der Universitäten Sachsens (1945-1991)
- Bemerkung
- Teilweise mit vorlagebedingtem Textverlust.
- Strukturtyp
- Band
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitschrift
Universitätszeitung
-
Band
Band 5.1961
-
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- Ausgabe Nr. 46, 16. November 1
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Band 5.1961
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Das hohe Ethos und die großen Anstrengungen der sowjetischen Wissenschaftler, deren Beitrag zum Aufbau des Kommunismus gerade in den Wochen vor und während des XXII. Parteitages im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht, gestaltet Daniil Granin schon in seiner Erzählung Variante B: Der sowjetische Aspirant Alexander Sawizki entdeckt nach Abschluß der Arbeit an seiner Dissertation über einen neuen Gleichrichtertyp, daß ein anderer vor ihm das gleiche Thema schon behandelt hat. Dieser andere, Anatoli Nikolajew, hat seine Arbeit zwar fertigstellen, aber nicht auswerten und veröffentlichen können. Er fiel im Großen Vaterländischen Krieg. Alexander überprüft die Variante „B", die Nikolajew nach vielen Versuchen gewählt hatte, und muß feststellen, daß ihre Lösung gegenüber der Lösung der Variante „A“, die er konsequent verfolgt hatte, den dreifachen Nutzeffekt bringt. n Vor die schwere Entscheidung gestellt, ob er mit seiner Dissertation noch an die Öffentlichkeit treten soll, hatte er sich mit seinem Mentor Professor Moshanow beraten. Daniil Granin: LJapjautg , Das Gespräch mit dem Professor hatte keinerlei Klarheit gebracht. Alexander erwog alles so unvor eingenommen, wie er es mit der ihm eigenen Ge- wissenhaftigkeit vermochte. Nein, daran war nicht zu denken ... Die Dissertation verteidigen und danach die Arbeit Nikolajews drucken? Er wußte, was das bedeutete: Es war ein Trick, ein Kompromiß mit dem Gewissen, und ein häßlicher Kompromiß, der nur sein Streben nach dem wissenschaftlichen Grad Übertünchen sollte. Er ging in sein Labor. Teilnahmsvoll erkundigte man sich, sprach ihm Mut zu. Er merkte, daß die Kollegen über sein verbittertes Aussehen ernstlich beunruhigt waren. Er nahm sich zusammen und zwang sich sogar, mit allen gemeinsam eine scherz hafte Verordnung für Aspiranten anzuhören. Sein früherer Kommilitone Michail Bragin, ein Witzbold und Spaßvogel, verkündete: „Schreib nicht zu lang: eine Dissertation ist nicht ,Krieg und Frieden 1 , und du bist nicht Leo Tolstoi.“ — „Überprüfe die Quali tät deiner Dissertation an deiner Familie und deinen Kollegen.“ Alexander schaute mißtrauisch in die lachenden Gesichter der Kollegen; war etwa diese Vorlesszene speziell dazu bestimmt, ihn zum Reden zu bringen? Er lief plötzlich rot an und schlug mit der Hand auf den Tisch. „Ich würde mich schämen, an einem solchen Blöd sinn Geschmack zu finden. Er wollte noch etwas sagen, aber er schwieg und ging, ohne sich umzu drehen, hinaus. Sie waren gute Freunde. Vielleicht sollte man sich mit ihnen beraten? Sie würden ihn besser begreifen als Moshanow. Aber was für einen Rat erwartete er denn? War nicht schon das Suchen nach Ratgebern Feigheit, aus dem Wunsch geboren, die Verantwortung von sich abzuschieben? Er blieb mitten auf dem Korridor stehen, so überrascht war er von diesem beschämenden Ge danken, und plötzlich hörte er hinter sich das eilige Klippklapp vcn Absätzen. Er drehte sich um. Nata scha holte ihn ein. Ihr nach hinten gekämmtes Haar war zerzaust. „Schämst du dich gar nicht, was ist das für ein hysterisches Gebaren?“ sagte sie, nahm ihn an der Hand und zog ihn, ohne eine Antwort abzuwarten, hinter .sich her. Am Haupteingang des Instituts be gann eine breite Allee. Sie schritten die Allee ent lang, Alexander' schwieg. Sie erschrak über seine Teilnahmslosigkeit und ungewohnte Unterwürfigkeit, deshalb setzte sie ihn auf die erste Bank, die sie sah. Das dichte, saftige Grün des jungen Sommers ergoß sich auf die Wege, und spielend berührten die Büsche ihre Rücken. Natascha schaute ihn unverwandt und aufgeregt an. Sie wartete beharrlich. Und Alexander, den all diese Dinge quälten, erzählte: „Es gibt zwei Möglichkeiten“, sagte er, „die erste hat Moshanow vorgeschlagen: Verteidigung und dann Veröffentlichung; die zweite: die Verteidigung ab sagen und dann Nikolajews Arbeit drucken.“ „Ja“, sagte Natascha, „eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.“ Alexander lächelte. „Es gibt nur die Variante ,A‘ und die Variante ,B‘.“ Sie drückte ihm dankbar die Hand. „Mein Gott, wie kompliziert alles plötzlich gewor den ist!“ fuhr es ihr plötzlich heraus. „Und keinen trifft Schuld. Du selbst würdest dich ja quälen, wenn du auf den Vorschlag Moshanows eingingst. Und auch Moshanow würde dich im Tiefsten seiner Seele nicht mehr achten.“ „Das heißt also, nicht verteidigen?“ „Warum bekümmert dich eigentlich vor allem die Verteidigung?“ Quälender Zweifel klang aus ihrer Stimme. „Die Hauptsache ist doch, daß ein groß artiges Gerät geschaffen wird, das doppelt so stark ist wie deins. Natürlich ist es schade, daß zwei an ein und demselben Thema gearbeitet haben und die Ar beit des einen vergebens war. Und es ist traurig, daß das eben deine Arbeit ist. Sascha .. . Du hast zwar“, fügte sie hinzu, „vieles gelernt, aber das Resultat...“ „Es gibt keins“, sagte Alexander schroff. „Warum fängst du wieder davon an?“ „Du willst sagen, daß mich dein Schicksal nicht be rührt?“ Natascha drückte die Hand an die Brust, als wollte sie sich vor seinem Vorwurf schützen. „Dumm kopf! Für mich hängen so viele Hoffnungen an dei ner Promotion. Du hast sie mehr als viele andere verdient. Aber man darf so etwas nicht tun! Ich kann selbst nicht erklären, warum, aber man darf es nicht.“ „Ich bin neunundzwanzig Jahre alt“, sagte Alexan- der. „Neuundzwanzig, und ich habe, scheint es, noch nichts vollbracht. Ich nehme und nehme immer wie der. — und kann nichts geben. Schule, Hochschule, dann der Krieg, jetzt die, Aspirantur. Die Verteidi gung ablehnen, ein anderes Thema nehmen, das be deutet noch ein Jahr. Ich habe um jede Minute ge rungen. und alles für die Katz . ..“ Das Mädchen kauerte sich plötzlich vor ihm hin, zog ihn zu sich herunter und schaute ihm von unten ins Gesicht. ,/Weißt du was? Verteidige! Aber wir schwören, daß wir ein Jahr lang keinen Sonntag, keine Ferien nehmen werden, wir werden auch abends arbeiten und, wenn es nötig ist, in der Nacht, nur um unsere Schuld abzutragen und das verlorene Jahr zu recht fertigen. Nicht wahr. Liebster?" Alexander strich ihr über den Kopf, und sie fühlte, daß seine Finger leicht zitterten. „Kindermärchen! Ich kann an keine Schuld glau ben. Wenn ich nicht das erreichen kann, was Nikola jew vor sechs Jahren geschafft hat, so heißt das, daß ich ein unbegabter Mensch bin und mir kein Platz in der Wissenschaft gebührt. Warte! Das ist noch nicht das schlimmste. Das schlimmste ist, daß ich unbedingt Kandidat der Wissenschaften werden möchte, um selbständig arbei ten zu können, daß ich eine Rechtfertigung vor mir suche, hin und her überlege, schwanke... und daß ich höchstwahrscheinlich verteidigen werde. Du hast mich zu Unrecht beschuldigt, ich bin froh, daß ein Gleichrichter existiert, der besser ist als meiner; aber es ist mir zuwider, leise abzutreten, damit dann irgend so ein Schnösel spottet: ,Bei ihm ist, scheint’s, nichts dabei herausgekommen! Erinnert ihr euch?... 1 Was, kleinlich? Ich brauche nur an so etwas zu den ken, und mein ganzer Mut geht zum Teufel...“ Das Mädchen schwieg. Vielleicht verstand er ihr Schweigen wieder auf seine Weise, ungut und un wahr, jedenfalls erhob er sich plötzlich und sagte: „Verzeih bitte, aber ich muß gehn, ich möchte allein sein“, und er ging, ohne sich umzuschauen. Nach einer Stunde, als Natascha schon ins Labor zurückgekehrt war, rief man sie ans Telefon. Es war Alexander, und es schien ihr, als wäre er weit weg, tausend Kilometer entfernt, so dumpf klang seine Stimme. „Ich kann dich nicht verstehen“, wiederholte sie ärgerlich und blies in den Hörer. „Lauter... Sascha, woher rufst du an? Aus einer Telefonzelle? ... Was sagst du?“ „Ich werde...“, verstand sie. „Ich kann nicht... Ich werde — verstehst du mich? — ich werde vertei digen .. Solange der Sekretär des Wissenschaftlichen Bei rats die Biographie Sawizkis verlas, zwang Alexan der sich, die an der Tafel hängenden Skizzen zu überprüfen. Einen Augenblick lang schloß er die Augen und spürte, wie übel ihm war. „Bitte, Alexander-Iljitsch“, sagte der Sekretär. Alexander wandte sich dem Saal zu, tastete nach dem Zeigestab, zögerte noch eine Sekunde und konnte den Stab, der auf dem Tisch festgeklebt zu sein schien, nur mit Mühe hochbekommen; schließlich be gann er mit fremder, gleichmäßiger Stimme, sehr ruhig. Er hatte sich ganz in der Hand, verfolgte die Be wegung des Zeigestabs, machte an den geeigneten Stellen Pausen, unterstrich mit der Stimme wichtige Schlußfolgerungen. Je länger er sprach, um so mehr hatte er den Wunsch aufzuhören. Er preßte den Stab so sehr, daß seine Finger weiß wurden, und er zwang sich, nichts auszulassen, was gesagt werden mußte. Als er geendigt hatte, legte er den Stab vorsichtig auf den Tisch, und sofort wurde ihm leichter. Jetzt begannen die Opponenten zu sprechen. Er setzte sich abseits, zog einen Bogen Papier heraus und schickte sich an, Notizen zu machen. Jemand legte ihm einen sorgfältig gefalteten Zettel vor, der wie ein Pulver briefchen vom Apotheker aussah. Er öffnete das Briefchen, las den Inhalt und durchmusterte auf merksam die Zuhörerschaft. Die Vorhänge waren aufgezogen, die Sonne beschien die wie in einem Amphitheater aufsteigenden Bänke und Pulte. Es war sehr voll. In der ersten Reihe saßen. Moshanow, Bragin und seine früheren Kommilitonen. Während der eine Opponent sprach, schrieb Moshanow un willig irgend etwas auf. die Kollegen schauten auf geregt auf Alexander. Er nickte ihnen beruhigend zu. Auf den oberen Bänken reckten einige Diplomanden angestrengt die Hälse und stießen sich an. als der Opponent sprach. Noch weiter oben sah er Natascha. Sie saß neben seiner Mutter und flüsterte ihr etwas ins Ohr, ohne den Blick von ihm zu wenden. Als sie merkten, daß er sie anschaute, lächelten sie ihm beide aufmunternd zu, aber ihr Lächeln sah so gequält aus, daß sie ihm leid taten. Er dachte: .Mutter weiß von nichts, aber errät sicher etwas; vor ihr kann man nichts verbergen. Was mag Natascha ihr wohl sagen? Nun in einer Stunde . . Natascha hatte das hellblaue Sonntagskleid mit dem Matrosenkragen an. Sie hatte es extra für die sen Tag genäht. Er fühlte sich noch elender. Beson ders, weil seine Mutter hier war. Warum war sie nur gekommen? Er hatte sie nicht eingeladen, hatte ihr vorgeflunkert, daß das nicht ginge. Er schaute in die oberste Ecke des Hörsaals. Dort saß Sergejew, der Chefkonstrukteur des Gleichrichterwerkes. Sergejew hob die Hände und applaudierte ihm lautlos zu. Das war ja nun völlig unpassend! Und schließlich er blickte er... Es war eigenartig, daß sie gerade auf dem Platz saßen, auf dem er als Student Vorlesungen gehört hatte. Sie waren beide aufgeregt und bedrückt, und Alexander wußte, was sich zwischen ihnen abge spielt hatte: Marija Timofejewna hatte nicht gewollt, daß Galina ihm diese Notiz sandte. Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats er heb sich schwerfällig und verlas das Gutachten von Dmitri Sergejewitsch. Seine Worte klangen unge wohnt frisch; in jedem Satz spürte man die kluge Mühewaltung eines weisen Mannes, der vielen hier im Saal bekannt war. Alexander vernahm einige Wendungen, die er vorher nicht beachtet hatte. Dmitri Sergejewitsch schrieb: „Es gibt eine alt modische Metapher: .etwas auf den Altar der Wis senschaft legen*. Es ist sehr schön, aber auch beun ruhigend, wenn ein junger Wissenschaftler sein erstes Werk auf den Arbeitstisch der Wissenschaft legt...“ Und obgleich diese Worte für Alexander sprachen, zog er unwillkürlich etwas den Kopf ein, als fürchtete er ihre grausame Wahrheit. Dann sprach der Chefkonstrukteur des Werks. Er lobte die Dissertation Sawizkis von ganzem Herzem, erlaubte sich, der heutigen Jugend, die sich mit einem so aktuellen Thema befaßte, ein paar Komplimente zu machen, und schlau die Augen zusammenkneifend, klagte er: „Unsere Kunden sind ausgesprochene Vielfraße. Geben wir ihnen ein Gerät mit einer bestimmten Ka pazität, verlangen sie ein stärkeres. Deshalb ziehen wir den Hut vor euch und rufen euch zu: ,Helft uns, die Kapazität zu erhöhen!*“ । Mit einem Wort, es lief darauf hinaus, daß sich die ganze Aufmerksamkeit der Aspiranten und des In stituts von nun an auf Gleichrichter zu richten hätte, daß dies die wichtigste Aufgabe des Staates über haupt sei. Man dankte dem Chefkonstrukteur mit freundschaftlichem Beifall. Bis zum Schlußwort blieb noch geraume Zeit, aber Alexander hatte bereits das Gefühl dafür verloren. Die Ereignisse zogen sich in seinem Bewußtsein in die Länge wie in einem Zeitlupenfilm... Und jetzt stand er wieder vorn. Aus irgendeinem Grunde blät terte er in den Notizen mit seinen Entgegnungen gegen die Angriffe der Opponenten, als ob er wirk lich darüber sprechen wollte. Man wartete, daß er beginnen würde, aber er schwieg. Er ging zur Tafel und stieß sie mit einem Ruck nach oben. Auf die weiße Fläche, die darunter zum Vorschein kam, heftete er mit Reißzwecken zwei Skizzen. „Die beste Antwort auf die Fragen der Opponen ten“, sagte er so ruhig wie möglich, „werden die hier gezeigten Schemata sein. Sie wurden von dem Aspi- Fliegerkosmonaut German Titow beim Empfang in Leipzig Einsendung zum künstlerischen Wettbewerb anläßlich der Universitätsfestspiele von Hans-Peter Maeckel) Juristenfakultät, 4. Studienjahr. ranten Anatoli Nikolajew im Jahre neunzehnhun- derteinundvierzig ausgearbeitet. Anatoli Nikolejew ist gefallen. Ihm gelang es. in seiner Dissertation weit bessere Ergebnisse zu erzielen und all die Män gel völlig zu vermeiden, die mit Recht in meiner Arbeit kritisiert wurden.“ Er begann, über Nikolajews Gerät zu berichten. Die Zeit war begrenzt; in den ihm zur Verfügung stehenden Minuten mußte er sowohl das Neue des Wirkungsprinzips als auch die Zuverlässigkeit, Quali tät. Einfachheit der Fertigung und die Kapazität charakterisieren; sein Atem reichte nicht aus, er ver schluckte die Satzenden, aber er sprach jetzt wieder mit seiner natürlichen Stimme. Nur einmal blickte er in den Saal, und wie von Magnesiumlicht angestrahlt sah er die auf der schwitzenden Nase Moshanows hüpfende Brille, die Neugier der Studenten, die gequälte Falte auf der Stirn Nataschas, das Erschrecken seiner Mutter, die dankbare Verwirrung Galinas. Marija Timofejewna hatte das Gesicht mit beiden Händen bedeckt, ihre Schultern bebten. Der Chefkonstrukteur stützte sich breit auf die Bank und hielt die Hand hinter das Ohr. Aus seinen Augen blinkte Freude . . . Alexander holte Atem, er wendete sich nur noch an die Mit glieder des Wissenschaftlichen Beirats und erklärte, wie er von der Arbeit Nikolajews erfahren hatte. „Ich bin der Meinung daß demzufolge meine Dis sertation keinerlei Wert besitzt und ich deshalb nicht Anspruch auf den Titel eines Kandidaten der Technischen Wissenschaften erheben kann. Es war ein unglücklicher Zufall, an dem niemand Schuld trägt, aber vielleicht haben wir nur so die Gelegen heit bekommen, eine wirklich wertvolle wissen schaftliche Arbeit, eine große und unserem Lande sehr nützliche Entdeckung zu bewahren.** Der Vorsitzende des Beirats, ein riesiger breit schultriger Mensch mit einem Löwengesicht, korre spondierendes Mitglied der Akademie der Wissen schaften. der bei allen Elektrotechnikern der Sowjet union bekannt war, erhob sich. „Gestatten Sie zu fragen, Genosse Sawizki, warum Sie den Wissenschaftlichen Beirat nicht vor Ihrer Verteidigung davon unterrichtet haben?“ , fragte er kalt. „Sawizki trägt keinerlei Schuld*', rief Moshanow. „Er hat mir alles berichtet, und ich habe ihn über redet, die Verteidigung durchzuführen, ich glaube.. “ Moshanow wollte noch etwas sagen, aber Alexan der unterbrach ihn: „Ich mußte verteidigen, um zu beweisen, daß ich in den drei Jahren meiner Aspirantur fleißig ge arbeitet habe.“ Es wurde sehr still. Jemand unterdrückte den Husten mit vorgehaltener Hand. ' E „Verständlich“, sagte der Vorsitzende des Wissen schaftlichen Beirats. „Ich bitte die Mitglieder des Beirats, sich in den Nachbarraum zu begeben.“ Mit gebeugtem Kopf ging er-als erster durch die niedrige Tür ins Assistentenzimmer. Alexander zündete sich eine Zigarette an. nahm die Skizzen von der Tafel und rollte sie zusammen. Jemand rannte zum Ausgang, schnelles Klipp klapp von Absätzen, die Tür fiel ins Schloß. Alexan der brauchte sich gar nicht erst umzudrehen, er wußte auch so: Das war Natascha. Sie hatte es ein fach nicht mehr ausgehalten und war hinausgelaufen. Er war so erschöpft, daß er nur noch die Kraft hatte, zärtlich an sie zu denken. Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats kehrten aus dem Assistentenzimmer zurück. Ohne einander anzusehen, nahmen sie umständlich Platz. Der Sekretär stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte dem Vorsitzenden etwas ins Ohr. Dieser murmelte eine Erwiderung, zog die Augenbrauen zusammen, bekam vom Sekretär einen Zettel, den er weit von sich streckte, wie es Weitsichtige tun, und verlas den Beschluß: „Der Wissenschaftliche Beirat hat folgendes be schlossen: „Der Titel eines Kandidaten wird dem Aspiranten Sawizki nicht verliehen, da seine Arbeit nicht die erste’ auf dem betreffenden Gebiet darstellt.* Gleichzeitig bestätigt der Wissenschaftliche Beirät“, der Vorsitzende sprach jedes Wort überdeutlich aus, „die unzweifelhaften Fähigkeiten Sawizkis zu selb ständiger wissenschaftlicher Arbeit und Vor allem, daß die von ihm vorgelegte Dissertation die Zu erkennung des Titels eines Kandidaten der Tech nischen Wissenschaften verdient hätte wenn nicht von dem gleichen Sawizki die Arbeit Nikolajews entdeckt worden wäre. Aus diesen Gründen bittet der Wissenschaftliche Beirat das, Ministerium, die Aspirantur auf ein Jahr zu verlängern.“ Gleichzeitig empfahl der Beirat, die Arbeit Nikolajews unverzüg lich zu veröffentlichen. Er gab das Blatt dem Sekretär zurück und ging zu Alexander. „Alexander Iljitsch“, sagte er leise, und alle An wesenden erhoben sich von ihren Plätzen, „Sie haben eine anständige Tat vollbracht, und ich glaube, daß sie uns besser als jede Verteidigung beweist, daß aus Ihnen ein wirklicher sowjetischer Wissenschaft- lei- werden wird.** Mit beiden Händen drückte er Alexander die Hand, und das ganze Auditorium spendete leiden schaftlich Beifall, um seinen Gefühlen damit Luft zu machen. Im Vorraum wurde Alexander von Freunden, Be- kannten und Kommilitonen umringt. Er sah seine Mutter etwas abseits von den anderen, sie wollte in seiner Nähe sein. Alle standen verwirrt und. wußten nicht so recht, wie sie sich benehmen, was sie sagen sollten, alle schauten ihn nur an und lächelten. Plötz lich wich die Menge auseinander und ließ einen Durchgang frei. Galina, an der Hand Marija Timo fejewna, schritt auf Alexander zu. „Wir gratulieren Ihnen, Alexander Iljitsch“, sagte sie und reichte ihm einen Blumenstrauß. Er feuchtete seine trockenen Lippen an. „Wozu?“ fragte er heißer und beschloß, gerade daraufloszugehen. „Wozu gratulieren Sie mir?“ Galina Semjonowas Brauen zitterten, und ihr Ge sicht wurde genauso wie auf der Postkarte auf Ana tolis Schreibtisch. „Sie haben meinen Glauben an den Menschen ver teidigt“, sagte sie so schlicht, daß keinem ihre Worte ' exaltiert erschienen. ... Sie gingen zusammen auf den großen Platz vor dem Institut. Alexander erblickte Natascha weit hinten im Garten. Er eilte auf sie zu — in der einen Hand die Blumen, in der anderen die zusammen gerollten Skizzen —, blieb stehen, wollte etwas sagen, aber ihre traurig glänzenden Augen verrieten, daß sie schon alles wußte oder ahnte. „Natascha“, begann er, „nur du .. “ Er konnte nicht zu Ende sprechen: Jemand zog ihn beharrlich an der Schulter. Er wollte die Hand abschütteln, aber sie war stark, und ließ nicht los. Der Chefkonstrukteur des Werks stand neben ihm. „Alexander Iljitsch mein Lieber, der Wagen war tet. Fahren wir zusammen ins Werk. Ich möchte mir mif Ihnen das Projekt genau ansehen.“ Alexander blies die Nasenlöcher weit auf. „Hören Sie mal.. “ „Ja. .Völlig verständlich. ,Gehen Sie zum Teufel!* Ja?“ Sergejew schob sich mit einem Seufzer den Hut in die. Stirn und kratzte sich am Hinterkopf. „Gut. Ich gehe. Aber merken Sie sich: Morgen früh hole ich Sie mit dem Wagen ab.“ Er entfernte sich einige Schritte, kehrte aber wie der um. „Ich kann nicht, mein Lieber“, sagte er, „lassen Sie mich wenigstens noch einen Blick auf die Skizzen werfen!“ Zornig streckte ihm Alexander die Rolle zu. Sergejew breitete die Blätter gleich auf der Bank aus, diesmal bat er nicht, er befahl, befahl Alexan der und dem Mädchen, das neben ihm stand, die Blätter zu halten, damit sie nicht vom Wind weg geblasen würden. Er beugte sich tief herunter und brachte seine kurzsichtigen Augen nahe an die Blät ter. Der Hut störte ihn, er gab ihn Natascha zum Halten. Dann richtete er sich auf. „Ausgezeichnet!“ sagte er. „Beispiellos! Nur...“ Nachdenklich runzelte er die Stirn. „So steht’s also.“ Er schüttelte den Kopf. „Ja, ja. Zuwenig.“ „Was ist zuwenig?** fragte Alexander erstaunt. „Die Leistung. Diese Kapazität ist für uns zu klein!... Was starren Sie mich da so an?“ rief der Chefkonstrukteur. „Ich sage: zuwenig, für unsere neuen Großbauten reicht das schon nicht mehr aus. ,A‘, ,B* — alles ausgezeichnet, aber wir brauchen die Variante ,C‘, ,D‘, zum Teufel noch mal! Oder ist das etwa schon die Grenze?“ Natascha erhob sich aus irgendeinem Grunde von der Bank und sah Alexander an. Aber er bemerkte sie nicht, ging um die Bank herum und schaute über die Schulter des Chefkonstrukteurs auf die Skizzen. „Zu klein? Zu geringe Leistung?“ wiederholte er leise, als ob er einen entfernten und ihm noch ent gleitenden Gedanken fassen wollte. Aus Variante B ' Sowjetische Erzählungen aus vier Jahrzehnten Herausgegeben von Werner Günzerodt und Hans-Gert Kupferschmidt Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig
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