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die deutsche Romantik charakterisierte — trotzdem Chopin mehr Pole und Franzose als Deutscher war. Seine Domäne ist das intime Kunst werk, seine Besonderheit die Miniatur. Als Romantiker der Klavierkomposition ist Chopin Robert Schumann, den er z. T. sogar anregte, mindestens ebenbürtig und selbständig an die Seite zu stellen. Chopin besitzt aber noch eine andere Seite, durch die er geistig auf das innigste mit allem, was Romantik in der Musik heißt, ver knüpft ist: Chopin der Chromatiker. Die chromatischen Tonfolgen, die niemand vor Chopin mit gleicher Neigung anwandte, sind ja ein Wesenszug der romantischen Musik überhaupt. Hier hat er bahnbrechend gewirkt und erscheint dadurch als einer der bedeutendsten Pioniere der mit Richard wagner einsetzenden modernen Harmonik. (Schon in opus 4 ist z. B. die Tristan- Cbromatik angedeutet.) Als absoluter Meister tritt uns Chopin entgegen, wenn er für das Klavier — „sein Instrument“ — allein schreibt. Solange das Klavier lebt, wird es nicht ohne ihn leben können. Und auch alles öffentliche Klavier spiel hat immer noch seinen Brennpunkt in Chopin; - denn was er aus den lasten herauszaubert, kann nicht verwehen. Das Merkwürdigste in diesem Schaffen ist, daß man ihm keine kompositorische Entwick lung nachweisen kann. Die Emanationen seines Genies erkennen wir in seinen frühe ren Werken — z. B. auch in den Klavier konzerten opus 11 und 21 (Romanze und Adagio) — nicht weniger als in den Schöp fungen der späteren Zeit (der „Fantasie“ opus 49, der Mazurken, Barkarolen usw.). Höchstens, daß die Werke der früheren Jahre reichere Ornamentik aufweisen, während die letzten im architektonischen Bau größere Vollendung zeigen. In den Klavierkonzerten (in E-Moll, in Fis-Moll und in F-Moll. das zur Wieder gabe gelangt und mit seinem Larghetto allein ganze Bibliotheken neuzeitlicher „Universal-Editionen“ auf wiegt) lernt man allerdings Chopin nicht von der Seite kennen, von der man ihn als einen relativ unvergleichlichen Meister bezeichnen könnte. Die großen sinfonischen Formen, die Mozart, Beethoven und Weber (der letztere in seinem „Klavierstück“) dem vom Orchester begleiteten Klavierkonzert gegeben haben, und die auch zu Chopins Zeiten in den zur gleichen Gattung zählenden Werken Mendelssohns und Schumanns wieder auf lebten, vermochte Chopin nidit zu beherr schen. Es fehlt ihnen doch die organische Weiterentwicklung der Themen und die strenge Durchführung des Motivs. Immer hin wird man von diesen Tonschöpfungen mit ihren feinen Klangreizen und Farben brechungen, ihrer aparten Harmonik und ihren blühenden Passagen hingerissen werden. Kurt v. Wollurts Tripeifuge für großes Orchester (opus 16) Auf dem letzten Tonkünstlerfest in Schwerin erregte unter den Orchester- kompositiouen das größte Aufhorchen eine Tripelfuge für großes Orchester des jungen Berliner Komponisten Kurt o. Wolfurt. Er gehört zu den „Neutönern“, die den Ein flüssen des Expressionismus, der „Infla tionsmusik“ nidit unterlegen sind. Er ist eine klare, gesunde und kräftige Natur, die sich vom Vergangenen nicht trennen will, vielmehr gerade in ihm Neuanregungen sucht und findet. Und so ist es denn auch bezeichnend, daß aus dem musikfestlichen Gewimmel von Nichtigkeiten und Halb heiten sein Werk als etwas Ganzes in den größeren Konzertsaal übernommen wird. Es handelt sich bei dieser Tripelfuge — wie v. Wolfurt selbst betont — „nicht um ein errechnetes oder ausgeklügeltes Musik exempel, sondern um ein Charakterstück, das die Form einer Fuge erhielt“. Der erste Abschnitt der Fuge (1. Thema) entspricht einem Allegrosatz; der zweite Abschnitt (Einsatz des 2. Themas) hat Scherzo-Cha rakter; der dritte Teil (Einsatz des dritten Themas) ist eine lyrische Episode und als langsamer Satz zu werten; der vierte Teil schließlich (gleichzeitiges Erklingen aller dreiThemen mit freiemSchluß) weist Final charakter auf. — Der Aufbau vollzieht sich nach einer kurzen Einleitung folgender maßen: 1. Erstes Thema (Durchführung des selben) ; 2. Zweites Thema (Durchführung); 5. Erstes und zweites Thema kombi niert; 4. Drittes Thema (Durchführung); 5. Erstes und drittes Thema kombiniert; 6. Alle drei Themen kombiniert; Freier Schluß. Das Werk ist glänzend gearbeitet, alle drei Themen scharf profiliert und klar durchgeführt und kombiniert. Von außer ordentlicher Wirkung ist vor der Coda, die das erste Thema rhythmisch verkürzt und von drei Trompeten unisono vorträgt, die effektvolle Aufeinandertürmung der drei Themen. Hier zeigt sich der Komponist, der trotz Liebäugelns mit der Polytonalität sich immer noch im Kreise unverkennbarer Tonika- und Dominantwirkungen erfreut, als ein ganz bedeutender Satztechniker. So entstand ein Werk, das das große Aufsehen auf dem letzten Tonkünstlerfest wohlver diente. Constantin Krebs.