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Ihr sehet, meine Freunde, daß ich mir's nicht habe viel Mühe kosten lassen, einen Tert zu suchen, der durch seine Wahl überrascht und an dem die Auslegungskunst sich zu zeigen Gelegenheit hätte. Das ist ein klarer, einfacher Spruch, wie er so jedem mit der heili gen Schrift nicht ganz Unbekannten zuerst einfällt, wenn inan die Zöglinge einer Gelehrtenschule mit ihren Lehrern zum feierlichen Got tesdienste versammelt sieht. Weisheit und Gottesfurcht, wie sie sich zu einander verhalten, das ist wohl die für uns in solchen Augen blicken am nächsten liegende Frage. Und die heilige Schrift ist mit Antworten darauf nicht karg, und alle laufen auf eins hinaus. „Lasset uns die Hauptsumme aller Lehre hören: fürchte Gott und halte seine Gebote, denn das gehört allen Men schen zu!" — rust der Prediger am letzten. „Mein Sohn, willst du weise werden, so lerne die Gebote, so wird dir Gott die Weisheit geben!" — mahnt Sirach im ersten Kapitel. Und Stellen, die, wie unser Text, mit den Worten: „die Furcht des Herrn", beginnen nnd dann sogleich der Weisheit gedenken, sind in den Psalmen, in den Sprüchen Salomo's und sonst im alten Testamente mit leichter Mühe in großer Anzahl zusammen zu suchen. Aber wie? — stehen wir nicht eben damit auf alttestamentlichem Boden? und ist das nicht ein überwundener Standpunkt? Treibt nicht die Liebe in Jesu Christo die Furcht aus?— Die Furcht, die Pein hat, ja, — „wer sich fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe" — wer sich fürchtet, — wir fürchten aber nicht uns, sondern Gott. — Der Geist, der auf Christo, dem Zweige aus der Wurzel Jesse, ruhen soll, wird ja auch geradezu und ohne Umschweif ein Geist der Erkenntniß und der Furcht des Herrn genannt, Iss. 11, 3. — Also, ein Christ braucht sich seiner Gottesfurcht nicht zu schämen, wenn sie nur durch den Geist der Liebe, die durch Jesum Christum ausgegossen ist in unsere Herzen, verklärt und gereinigt erscheint.