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Zuerst bleibt jeder, er mag nun nach dem Grade oder der Rich tung seiner wissenschaftlichen Bildung eine Stelle im bürgerlichen Leben einnehmen, welche es sey, mag ein Gelehrter heißen, er bleibt vor allen Dingen Mensch, und wenn der Mensch verkümmert, da verdorret zuletzt auch der Zweig der Weisheit mit seinen Blüthen. Ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Der Mensch ohne Gottesfurcht muß aber zuletzt verkümmern und verfaulen, denn sein ganzes Seyn und Wesen, Dichten und Trachten gehört der Erde, und was von der Erde ist, das muß zur Erde werden. Religion ist nicht ein Talent, dessen sich nur einzelne er freuen können, denen es gegeben ist. Religion ist Gemeingut aller, die es nicht muthwillig von sich stoßen. Weisheit ist nicht die Quelle der Gottesfurcht. — „Ich preise dich, Vater und Herr Himmels und der Erde" — betet Jesus — „daß du solches den Weisen und Klugen verborgen hast, und hast es den Unmündigen geosfenbaret!" — Wir wissen ja, daß wir nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum unsern Herrn glauben oder zu ihm kommen können. — Auf die Frage des Zweifels: Was ist Wahrheit? — giebt nicht die Wissenschaft Antwort, sondern die Gottesfurcht durch den Mensch gewordenen Gottessohn, der da sagt: Ich bin die Wahrheit. Selbst in der Theologie, die Wissenschaft kann da nichts mehr entdecken, alle wissenschaftlichen Studien auf diesem Gebiete — Lessing hat Recht — sind nur wie die Lösung eines Rechenexempels zu betrachten, dessen Facit schon gegeben ist. Darum braucht einer, um die Gottesfurcht wohnen zu lassen in seinem Herzen, keine wissenschaftlichen Studien gemacht zu haben, aber umgekehrt, die Furcht des Herrn muß den beseelen, dessen wissenschaftliches Treiben einen gedeihlichen Fortgang nehmen soll, zuerst also, wie schon gesagt, weil der Gelehrte doch seines Menschenthums sich nicht entäußern kann, und weil der Mensch ohne Gottesfurcht nichts, mindestens nichts erquickliches ist.