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in seine hingehaltenen Hande, drückte diese fest zusammen und sagte dann: „Weißt du, Herzensmann, was ich thue?" „Ja, meine Liebe, du giebst nur deine Bibel." „Nein, mein Teurer, ich gebe dir deine Bibel; Gvtt hat es mir aufgetragen, dir, ehe ich sterbe, dies süße Vermächtnis zu übergeben; halte es fest, behalte sie, lies sie! Nicht wahr, du versprichst mir, daß du dies thun willst?" Drei Wochen waren darüber hingegangen. Die Frau lag im Grabe. Da trat eines Tages jener stvlze Mann weinend wie ein Kind in das Zimmer des Geistlichen. „O, mein Freund," rief er, „mein Freund! Ich verstehe jetzt, was die Sterbende meinte. Ja, es ist meine Bibel, jedes Wort darin ist für mich geschrieben. Tag und Nacht lese ich in diesem Buche uud danke Gott, daß es meine Bibel ist. Und jetzt bitte ich Sie, mich in Ihre Gemeinde aufzunehmen." Dein Wort ist meines I-uhes Leuchte. Als während des französischen Krieges unter Friedrich Wilhelm III. Dessau durch unaufhörliche Truppendurchmärsche aller Art hart bedrängt wurde, befand sich Kammerdircktor v. R., auf den wegen seiner Orts- und Sachkenntnis das meiste ankam, durch Nachtwachen erschöpft und geängstigt durch die Aussicht, daß er das Unmögliche bez. der verlangten Einquartierungen und der gestellten fast unerschwinglichen Forderungen schließlich doch nicht möglich machen könnte, in einer schweren Lage. Der hochbetagte Herr ging schon mit dem Gedanken um, seinen schwierigen Posten niederzulegen. So gestimmt kehrte er eines Tages von neuen Verdrießlichkeiten heim. Die Bibel lag auf seinem Arbeitstische. Von den Sorgen des Amtes niedergedrückt und geängstigt, griff er nach ihr, doch nicht in der Absicht, in ihr Trost und Rat zu suchen, sondern mehr mechanisch, unwill kürlich. Ebenso unwillkürlich senkten sich seine Augen nieder, aber welches Gefühl durchdrang den frommen Mann, als er unmittelbar neben seinem Finger die Stelle las: „Mein Kind, in Widerwärtigkeiten sei getrost und trotze auf dein Amt, denn wer an seinem Amte verzaget, wer will dem helfen? Und wer will den bei Ehren erhalten, der sein Amt uuehret?" (Sir. 10, 31, 32 nach der unrevidierten Bibel).