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KONGRESS-SAAL DEUTSCHES HYGIENE - MUSEUM 13. Außerordentliches Konzert Sonntag, 2. April 1961, 19.30 Uhr Montag, 3. April 1961, 19.30 Uhr DIRIGENT Siegfried Geißler SOLISTIN Helene Boschi, Paris Igor Strawinski geb.1882 Pulcinella (Suite für kleines Orchester nach Pergolesi) Sinfonia (Ouvertüre) Serenata (attacca) Scherzino - allegro - andantino Tarantella (attacca) Toccata Gavotta con Variazioni I c II Vivo Minuetto (attacca) Finale PAUSE Allegro Larghetto Allegro Konzert für Klavier und Orchester B-Dur, KV 595 W. A. Mozart 1756 — 1791 L. van Beethoven 1770 — 1827 Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 C-Dur, op. 15 Allegro con brio Largo Rondo - Allegro ZUR EINFÜHRUNG Igor Strawinski - wie hat ihn die zeitgenössische Kritik schon genannt: Impressionist, Expressionist, Polytonaler, Primitivist, Snob, chaotischer Konstruktivist, Eklektiker. Derartige Schlagworte resultieren aus der Spezifik des Schaffensweges Strawinskis. Die ser Komponist nämlich verschmolz in den einzelnen Stadien seiner Entwicklung künst lerische Eindrücke verschiedenster Art mit Eigenem, so daß er sich fast in jedem seiner zahlreichen Werke, die nahezu alle Gattungen umfassen, wandelte, ein anderes Gesicht zeigte und dennoch immer er selbst blieb. Sein Freund Picasso nannte diese Erschei nung einmal geistreich den „Salto mortale ins Ungewisse“. Dabei hat Strawinski fest umrissenc Ansichten vom Wert der Tradition, von der er sagt, sie sei „nicht Zeuge einer abgeschlossenen Vergangenheit; sie ist eine lebendige Kraft, welche die Gegen wart anregt und belehrt. . . Man knüpft an eine Tradition an, um etwas Neues zu machen. Die Tradition sichert auf solche Weise die Kontinuität des Schöpferischen.“ Dennoch hat ihn diese Einsicht nicht davor bewahrt, sich von der nationalen Tradition seiner russischen Heimat zu lösen, so daß er ein Hauptvertreter des Kosmopolitismus in der Musik wurde und im Spätschaffen vor allem seiner ohnehin starken Neigung zum Konstruktiven allzu breiten Raum ließ. Bezeichnend ist die Formulierung Heinrich Strobels: „Strawinski zieht in seinem Werk noch einmal das Fazit der gesamten europäischen Musikentwicklung von der Grego rianik bis zu den umwälzenden Neuerungen, die er selbst im ,Sacrc du Printcmps* und in anderen Werken gefunden hat.“ Sein Frühschaffen, das bis in die Zeit des ersten Weltkrieges reicht, stand noch ganz im Banne der nationalrussischcn Tradition Mus- sorgskis und seines Lehrers Rimski-Korsakow, Ballettwerkc wie „Feuervogel“ (1910), „Petruschka“ (1911) und „Frühlingsopfer“ (1913), die das Ballett als selbständige Kunst form fast neben die Oper rückten, gehören trotz aller impressionistischen und expres sionistischen Einflüsse hierzu. Doch dann begann Strawinski mit fast jedem seiner Werke zu überraschen, machte er sich doch die verschiedensten Stileinflüssc zu eigen: den Jazz, die mittelalterliche Musik, den Stil des 18. Jahrhunderts, Pergolesi, Bach, Lully, aber auch Weber, Rossini, Tschaikowski, neuerdings auch Anton von Webern und sein spezifisches Reihensystem. Die stilistische Wandlungsfähigkeit, die vitale, suggestive Rhythmik und ein ganz eigenes klangliches Profil sind die Hauptmerkmale der Musik Strawinskis. Bedauerlich ist jedoch an seiner Entwicklung, daß er sich mehr und mehr von der Folklore seiner russischen Heimat, die er noch in dem Ballett „Le noces“ (Die Bauern hochzeit; 1923) so eindringlich verarbeitete, abwandte, ja sich sogar zu offener Polemik gegen den Sozialismus, die Sowjetunion und die sowjetische Musik verstieg, die be kanntlich auf der Basis der großen nationalen Traditionen neue Ausdrucksmöglichkeiten entfaltet (Strawinski ist seit 1945 amerikanischer Staatsbürger). Die Haltungsweise dieses Komponisten, der zu den zwiespältigsten, widerspruchsvollsten, wenn auch bedeutend sten Erscheinungen unter den Gegenwartsmusikern der bürgerlichen Welt gehört und eindeutig Stellung nimmt für die kapitalistische Wcltordnung, resultiert aus folgender Tatsache, auf die Antoine Golea in seinem Buch „Musik unserer Zeit“ hinweist: „Die Feigheit Strawinskis bestand darin, Angst vor seiner Zeit gehabt zu haben. Er hatte Angst vor der russischen Revolution und hat sich vollkommen von seiner Heimat los gelöst.“ Das muß bei allem Verständnis der Bedeutung Strawinskis für die internatio nale Gegenwartsmusik offen gesagt werden. Auf Anregung des in Paris wirkenden russischen Tänzers Sergej Djaghilcw, dem so manches Strawinski-Ballett seine Entstehung verdankt, schuf Strawinski 1919 sein Ballett „Pulcinella“. Djaghilew hatte in italienischen und Londoner Bibliotheken eine Reihe zum Teil unvollendeter Manuskripte und Skizzen des hochbedeutenden italienischen Barockmeisters der Oper Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736) gefunden. Diese Hand schriften stellte er Strawinski zur Verfügung, der aus dem Material und dessen fragmen tarischer Bühnenhandlung im Sinne der altitalicnischen Stegreifkomödie, gruppiert um die Zentralfigur Pulcinella, den traditionellen Helden des neapolitanischen Volks theaters, ein Ballett komponieren sollte. Da die vorliegenden Manuskripte Pcrgolcsis sehr unvollständig waren, begnügte sich Strawinski nicht mit einer Herausgeber- oder Bearbeitertätigkeit, sondern schrieb nach Themen und im Geiste Pergolesis eine über aus originelle und persönliche Musik, die am Anfang seiner sogenannten neoklassi zistischen Schaffensperiode steht. Mit diesem Werk teilte Strawinski das Streben jener um Eric Satie gescharten französischen Komponistengruppe nach klassischer Ausgewogen heit, nach einer neuen Klassizität, und verließ damit die Linie seiner radikalen, rausch- haft-cntfesselten Frühwerke. Mit „Pulcinella“ begann aber auch Strawinskis verhäng nisvolle Abwendung vom Nationalen und seine Hinwendung zum Kosmopolitismus. Über die Entstehung der Pulcinella-Musik berichtet der Komponist folgendes: „Sollte der Respekt oder meine Liebe zu Pergolesis Musik mein Verhalten ihr gegenüber be herrschen? Was treibt uns zum Besitz einer Frau an, der Respekt oder die Liebe? Und dann, mindert die Liebe den Respekt? Jedoch der Respekt bleibt stets steril und kann nie als produktives und schöpferisches Element dienen. Um zu schaffen, bedarf es einer Dynamik, eines Motors, und welcher Motor wäre mächtiger als die Liebe? Die Frage stellen bedeutete daher für mich, sie lösen . . . Ich glaube, daß mein Verhalten gegen über Pergolesis die einzig fruchtbare Einstellung ist, die man zu jeglicher alten Musik haben kann.“ Die Uraufführung des Pulcinella-Balletts, aus dem Strawinski später die heute zu hörende achtsätzige Konzertsuite zusammenstclltc, erfolgte am 15. Mai 1920 in der Pariser Oper. Der Dirigent war Ansermet, Choreographie führte Massine, der auch die Titclfigur tanzte. Die Gesamtausstattung besorgte Picasso. Die Musik der Pulcinclla- Suitc bedarf keiner eingehenden Erklärung. Sie ist eingängig, graziös-spielerisch und dem Hörer ohne weiteres verständlich. Zur Aufführung dieser liebenswürdigen, im „Barockstil“ gehaltenen und auf „moderne“ harmonische Zutaten, Reize fast völlig ver zichtenden Musik setzt Strawinski ein kleines Orchester von 33 Musikern ein. Die acht Sätze tragen folgende Bezeichnungen, die schon den Charakter der einzelnen Stücke andeuten: Sinfonia (Ouvertüre), Serenata, Scherzino, Tarantella, Toccata, Gavotta con duc Variazioni, Vivo, Minuetto-Finale. Das Klavierkonzert in B-Dur, KV 595, war das 21. und letzte seiner Gattung, das Wolfgang Amadeus Mozart am 5. Januar des Jahres 1791 vollendete, dessen Ende er nicht mehr erleben sollte. Am 4. März 1791 spielte er es selbst zum ersten Male in einem Konzertabend des Klarinettisten Joseph Beer im Konzertsaal des Wiener Hoftraiteurs Jahn. Es ist in seiner ganzen Haltung, die sich merklich von seinen Vor gängern unterscheidet, ein Werk des Abschieds. „Es ist das musikalische Gegenstück Mozarts brieflicher Bekenntnisse, daß das Leben jeden Reiz für ihn verloren habe“, sagt Alfred Einstein in seinem hochbedeutenden Mozart-Buch (Pan-Verlag, Zürich/ Stuttgart, 1953). „Er hatte zwei furchtbare Jahre hinter sich, Jahre der Enttäuschung in jedem Sinne, und das Jahr 1790 war noch furchtbarer gewesen als das Jahr 1789. Und er lehnt sich nicht mehr auf gegen sein Schicksal wie in der g-Moll-Sinfonic, zu der dies Konzert eine Art von Komplement ist, und nicht bloß in der tonartlichcn Bezie hung .. . Die Resignation bedient sich nicht mehr lauter oder starker Ausbrüche; alle Regungen der Energie werden abgewiesen oder abgedämpft; aber um so unheimlicher sind die Abgründe der Trauer, die in den Schattierungen und Ausweichungen der