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Sie befand sich schon vor Gerd Paetows Wirtschaft. Nan wünschte sie innerlich, der Weg hätte noch eine halbe, eine ganze, nein, viele Stunden gedauert. Unschlüssig blickte sie zu dem aufgetreppten Fachwerkhaus mit dem Bei schlag hinauf. Die Flaggen aller Herren Länder machten sich auf der großen Fensterscheibe breit, und in drei Sprachen verkündeten Aufschriften, daß man hier zu jeder Tageszeit warme Speisen haben konnte. Die Tür war angelehnt, und nur gedämpft klang Lachen und Sprechen, übertönt von der blechernen Stimme eines Grammophons, an das Ohr der Draußenstehenden. Das junge Mädchen gab sich einen Ruck und stieg die Treppen hinan. Dabei war es ihr, als trüge sie Blei klumpen an den Füßen. M- Und auf einmal stand Hanna Gromann doch im Lokal, und blickte mit wirren Augen um sich. Vor ihr wogte in bläulichen Schwaden der Tabaksrauch und ließ die Gesichter der Gäste nur verschwommen erscheinen. Ein süßlich strenger Groggeruch schwängerte die ganze Luft und legte sich beklemmend auf die Kehle. Hanna Gromann blickte weder nach rechts noch nach links. Wie im Taumel drängte sie sich durch die Stuhlreihen, bis sie vor dem Schanktische stand. Der Wirt hatte sich gerade einen großen Kümmel ein geschenkt und goß das scharfe Getränk, den Kopf dabei tief in den Nacken legend, in einem Zug hinunter. Wie er das Glas beiseite stellte, trafen sich ihrer beider Blicke. Da sah das junge Mädchen in ein aufgeschwemmtes, fahlbleiches Gesicht, dem die trübeu Augen mit den Tränen säcken darunter, einen ungesunden, verlebten Ausdruck ver liehen. Hanna Gromann wußte nicht, ob er sie erkannt hatte. Der Schreck über seinen Anblick hatte ihr die Stimme ver schlagen, so daß sie nur heiser hervorpressen konnte: „Ist Frau Paetow da?" „Ja, hinten in der Küche." Gerd Paetow deutete mit dem Daumen über die Schulter nach einer Tür, die in die Hinteren Räumlichkeiten führte. Fragend musterte er durch den Rauchschleier die Züge des jungen Mädchens und plötzlich blitzte ein jähes Erkennen in seinen blöden Augen auf. Aber Hanna Gromann hatte sich schon an ihm vorbei gedrängt und die Küche betreten. Frau Paetow stand am Herd und bratete eine große Pfanne voll Stint für die Gäste. Sie war eine hagere Person mit einem unsympathischen Gesicht. Wie ein Raubvogel, dachte das junge Mädchen, als sie die kaltprüfenden Augen, die scharf hervortretende Nase, das energische Kinn und den verkniffenen Mund dieser Frau sah. Als Hanna Gromann nachher in dem kahlen Hinter stübchen vor der Nähmaschine saß, stützte sie das Kinn in die Hände und blickte durch das Fenster auf den Hofplatz hinaus. Ein verkrüppelter Apfelbaum stand dort und in seinen kahlen Zweigen balgten sich ein paar Spatzen. Das junge Mädchen schüttelte abwesend den Kopf. — Also so sah Gerd Paetows Frau aus! Heftiger spektakelten die Spatzen; da erwachte die Sinnende aus einem schweren Traum und mit einem tiefen Aufstöhnen flüsterte sie: „Und Gerd Paetow trinkt? — Gerd — Paetow — trinkt?" Gegen Mittag kam Frau Paetow in das Hinterstübchen. Mit einem mürrischen Gesichte stellte sie einen Teller frischgebratene Stint, eine kleine Schüssel Kartoffelsalat und eine Tasse Kaffee auf den Nebentisch. „Hier haben Sie 'ne Kleinigkeit zu Mittag," knurrte sie kurz und wollte das Zimmer wieder verlassen. In diesem Augenblick tönte dröhnendes Gelächter vom Lokal her. „Seit heute früh säuft er da schon wieder rum, mit seinen sauberen Kumpanen, der Lüderjahn," keifte die Wirtin und sandte einen giftigen Blick nach der Tür. Hanna Gromann 'zuckte zusammen. Die lieblosen Worte taten ihr weh, obwohl Gerd Paetow sie nichts mehr angehen durfte. Die Frau war aber einmal in den Fluß gekommen; sie fuhr fort in ihren Klagen und Schmähungen, bis sie sich den angesammelten Zorn vom Herzen geredet hatte. Manchmal mußte sie notgedrungen innehalten; dann er schütterte ein heftiger Husten ihren mageren Körper und zwei brandrote Flecke zirkelten sich auf ihren knochigen Wangen. Krank scheint sie auch zu sein, dachte das junge Mädchen; und so etwas wie Bedauern für diese Frau stieg in ihr auf. Sie atmete ordentlich auf, als die Wirtin sich wieder in die Küche begab und sie allein ließ. Von dem Essen würgte sie kaum einige Bissen hinunter, aber den heißen Tee trank sie in tiefen Zügen; denn es fror sie in Gerd Paetows Haus. Immer mußte sie daran denken, ob der, den sie einst geliebt, wirklich so schlecht war, wie die Frau ihn hier ge schildert hatte, und immer regte sich in ihr eine Stimme, die den Mann freisprechen oder seine Fehler wenigstens in milderem Lichte erscheinen lassen wollte. Woran lag das? War er ihr noch nicht gleichgültig geworden? — Schlummerte noch in einer verborgenen Falte ihres Herzens ein Körnchen Liebe für ihn? Oder war es nur Mitleid für einen Menschen, der ein Opfer seiner Leidenschaft wurde? Hanna Gromann wußte sich keine Antwort auf diese Fragen; sie wünschte nur, weit fort zu sein von diesem Orte und zuckte nervös zusammen, wenn sich ein festerer Schritt der Tür näherte. Aber Gerd Paetow ließ sich, wie sie schon innerlich be fürchtet hatte, nicht in dem Schneiderstübchen sehen. Einmal hörte sie nebenan in der Küche heftiges Weinen, dazwischen die keifende, sich Überschlagende Stimme der Frau. „Willst Du, verlogene Deern, die Wahrheit sagen! — Du verstockte Kröt' Du!" Klatschende Hiebe wurden vernehmbar und erneut das erstickte Jammern eines Kindes. In dem jungen Mädchen kochte es. Sie begriff nicht, wie man sein Kind so schlagen konnte. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte die Mutter zur Rede gestellt. Um keine Dummheit zu begehen, beugte sie sich tiefer über die Maschine und arbeitete mit doppeltem Eifer. Es dunkelte schon stark, als sie endlich ihr heutiges Arbeitspensum erledigt hatte. Gerd Paetow stand hinter dem Schanktisch. Er mischte gerade einen Eisbrecher zusammen und be merkte sie erst, als sie schon die Tür ins Freie erreicht hatte. Draußen empfing eine empfindliche Abendkühle das junge Mädchen. Auf dem Wasfer leuchteten schon wieder die farbigen Laternen der Schiffe und die Straße entlang wälzte sich wie eine düstere Schlange der Strom der heimkehrenden Dockarbeiter. Die Blechkanne auf dem Rücken, Abspannung und Verdrossenheit in den Zügen, zogen sie schweren Schrittes in kleinen Gruppen dem Hause zu. Mancher freche und erstaunte Blick fiel auf das junge Mädchen, das noch immer unschlüssig auf der Wirtschafts treppe stand, um die Arbeitertrupps vorüber zu lassen. Da ertönten hinter der Wartenden Schritte — einige Gäste schienen das Lokal verlassen zu wollen — und nun bahnte sie sich, wie gehetzt, einen Weg durch die Menschen massen, bis sie den Frieden ihres stillen Stübchens erreicht hatte. Am folgenden Morgen tönte Hanna Groknann kein trauliches „Guten Morgen, Nähhannchen"! aus Kindermund entgegen. Ein feiner Regen rieselte vom bleigrauen Himmel herab, der hielt die kleinen Gäste in den Stuben fest. Trübe Schwermut lagerte über der regenumschleierten Landschaft, aus der die Häuser, die verankerten Schiffe, gleichsam wie geisterhafte Schemen heranwuchsen. Eine tiefe Melancholie erfüllte auch die Seele Hanna Gromanns. Sie hatte eine unruhvoll durchwachte Nacht hinter sich und war daher für die entmutigende Nüchternheit der Natur besonders empfänglich. Sie hätte etwas darum gegeben, wenn ein Sonnenstrahl, ein Lächeln aus arglosen KindeMugen ihr gerade heute den Weg erhellt hätte. Wie sie an dem Kai vorüberschritt, wo die schwedischen Holzdampfer anlegten, trippelte der kleine Hosenmatz vom vorigen Tage auf sie zu. Er war so schmutzig, so verwahrlost wie zuvor; auch der Riß hatte noch keine gründliche Behandlung erfahren; aber das junge Mädchen freute sich doch über seine An hänglichkeit, die er ihr für den geleisteten Liebesdienst erwies. „Da," sagte er großmütig ohne weitere Einleitung, und hielt ihr die köpf- und gliederlose Puppe hin, der heute schon die Holzwolle aus den Rippen guckte. Als das junge Mädchen bald ihn, bald das Puppen fragment verständnislos anblickte, erklärte er treuherzig: „Sollst Du schenkt haben!" „Du kleines, herziges Kerlchen," sagte Hanna Gromann gerührt. Sie hob den verdutzt Dreinschauenden zu sich empor und preßte einen Kuß auf seine pralle Wange. Elastischer setzte sie den Weg nun fort; — mochte es immer regnen um sie, in ihrem Herzen war plötzlich Sonnen schein eingekehrt. Aber als sie Gerd Paetows Lokal betrat, legten sich wieder dunkle Schatten auf ihre Seele; denn Gerd Paetow war heute allein in der Gaststube, und vor diesem Augen blick hatte ihr gegraut, seit sie es unternommen, sein Haus zu betreten. Bei ihrem Eintritt war er aufgesprungen und vor die Küchentür getreten. „Guten Tag, Hanna," sagte er bedrückt und hielt ihr zagend die Rechte entgegen. Die junge Näherin blickte über die dargebotene Hand hinweg und entgegnete fest: „Herr Paetow, lassen Sie mich bitte vorüber." Als die Worte gesprochen waren, wunderte sich Hanna selbst, wie scharf abweisend ihre Worte geklungen halten. Der Mann ließ mutlos die Hand sinken und gab schweigend den Weg frei. In der Küche war niemand anwesend, und Hanna begab sich sofort in das Hinterstübchen. Sie hätte gern ein gleichgültiges Wort mit der Frau gewechselt, denn das lastende Schweigen, das in allen Räumen herrschte, bedrückte sie und sie fürchtete sich vor dem Alleinsein. Um die Mittagszeit klopfte es schüchtern, und Gerd Paetows kleine Tochter trat ein. Sie brachte das Essen in einem sogenannten „Etagen topf", wie er von den Mittagstischen über die Straße aus geliehen wird. „Ist Mutter nicht zu Hause?" fragte Hanna freundlich die Kleine, die verschüchtert neben dem Tische stehen geblieben war; denn den ganzen Vormittag hatte niemand die Küche betreten. Das Mädchen schüttelte den Blondkopf. „Nein, Mutter liegt zu Bett, und wichtig fügte sie hinzu: Mutter hat die Lungenschwindsucht." „Nein?!" — Staunen, Schrecken kämpften in Hanna Gromann. Sie starrte in das grämliche Gesicht, in die altklugen Augen des Kindes, als hätte ihr jemand etwas Ungeheuerliches berichtet. „Doch," behauptete das Mädchen. „Gestern abend, wie Papa zu Bett ging, haben sie sich wieder geschimpft. Da hat Mutter gesagt, sie käme doch bald auf den Kirchhof; dann könnte Vater ihretwegen im Rinnstein verkommen und sich totsaufen." Hanna Gromann preßte die Hand aufs Herz, um de" brennenden Schmerz in der Brust zu betäuben. Welch ein Familienleben führte Gerd Paetow — und dies altkluge Kinv war Zeuge all dieser widerlichen Szenen! —, „Du mußt so etwas nicht sagen," bat sie erschüttert und faßte des Kindes Hand. „Mutter hat es nicht so gemeint Nun gehe wieder hin zu ihr, damit sie nicht so allein ist." Die Kleine setzte eine verstockte Miene auf. „Nein, Mutter haut und kneift mich immer. Gestern abend hat sie mich mit 'n hölzernen Toffel gehaut. Guck mal!" Sie streifte sich den Aermel des Kleidchens auf und hielt der Näherin den mageren Arm hin. Der war an manchen Stellen mit dunklen und schorfigen Flecken bedeckt wie scharfe Züchtigungen mit harten Gegenständen sie her vorzurufen pflegen. „Deck zu, Kind!" flehte Hanna gepreßt. Mitleid und Grauen erfüllten sie vor dem anklagenden Märtyrerblick dieser dunklen Kinderaugen, vor Gerd Paetow und seinem Haus. „Sieh hier," fuhr sie fort, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, „dies soll Dein neues Sommerkleid werden« Magst Du das?" Die Kleine nickte eifrig. Ein Heller Schein flog übel ihr vergrämtes Gesichtchen. „Darf ich nicht ein bischen hier bleiben?" bettelte sn zaghaft. „Wie heißt Du denn?" fragte Hanna Gromann. „Toni Paetow," antwortete das Mädchen und blickte in angstvoller Frage zu der Näherin auf. Hanna Gromann nickte: „Ja, ja, Toni, wenn Du schön artig bist, darfst D" ein bischen bleiben. Nachher gehst Du aber auch zu Deiner Mama und leistest ihr Gesellschaft!" „Ja—a!" versprach das Kind gedehnt, und suchte sieb einen Stuhl, um in stummer Andacht das Werden ihres Sommerkleides zu beobachten. Nachmittags, Toni hatte das Zimmer schon Wiedel verlassen, kam Gerd Paetow und brachte eine Tasse Kaffees Dem jungen Mädchen pochte das Herz in harten Stößen«! „Hier, Hanna — Fräulein Gromann," verbesserte el! sich, „trinken Sie erst eine Tasse Kaffee. — Hat das Esse» geschmeckt?" „Danke, Herr Paetow!" Hanna wagte nicht aufzusehen; sie beugte sich liefet über die Maschine, um ihre Unruhe zu verbergen. Gerd Paetow machte sich unschlüssig im Zimmer z" schaffen. Endlich wagte er einen neuen Vorstoß. „Wie geht es Ihnen denn jetzt?" W m „Danke, gut," antwortete Hanna leise, ohne von ihrer« w Arbeit aufzusehen. „Ich kann mich redlich ernähren und« habe meinen Frieden." ' Gerd Paetow seufzte hörbar auf. Er kämpfte mit emeiM sr Entschluß und räumte verlegen das Mittagsgeschirr zU-W sammen. K Plötzlich drehte er sich scharf herum und stieß hastisM abgerissen hervor: st"-— „Hanna, Sie sollen nicht gar zu schlecht von mir Das macht mich ganz elend, wenn ich daran denke. M Mutter drängte so, daß ich eine Frau nahm, die Geld hatte. „Meine Frau ist aus Stettin von Mutters Verwandtschaft/ Wirtin, aus de „G Und rü . „H damals „M Er Noch! „Li eben zr Es Aigen Mre l Dämm Die „D Vormit Iraner b'nde." . Die doch eil ballte Sie doch de Wirtin Wann kgeben dxgen R ur ur re m ze> in 22 K L „Damals, ich wußte wahrhaftig nicht mehr, wo mir del Kopf stand, habe ich zu allem „Ja" gesagt." Hanna Gromann hatte peinvoll den Kopf noch liefet gesenkt. Umsonst versuchte sie ihn zu unterbrechen. NB' da er sekundenlang Atem schöpfte, bat sie gequält: „Lassen Sie doch das, Herr Paetow, das ist nun alles tot und vergessen." Aber der Mann schüttelte verbissen den Kopf. „Nein, Hanna, ich muß mir das vom Herzen wälzet Ich habe daran getragen all die langen Jahre und ich habt dafür büßen müssen." , „Herr Paetow, wir haben alle unser Päckchen zu tragen! Hanna begriff selbst nicht, wie ruhig sie das hatte sage» können in diesem Augenblicke. „Päckchen?" Der Mann lachte verzweifelt auf. „Wissen Sie denn, was ich durchgemacht habe in diese" Ehe? Und wenn man zum Schnapsglas greift, wunder" sich die Leute." „Herr Paetow, Ihre Frau liegt krank hier im Hause? Hanna Gromanns Stimme bebte. Mit zitternden Hände" raffte sie ihre Nähutensilien zusammen. Da kam Gerd Paetow zur Besinnung. „Bleiben Sie, Hanna," bat er rauh, „ich gehe schon« Minuten, nachdem er gegangen war, zitterten dem junge" Mädchen noch vor Aufregung die Glieder. Die nächsten Stunden blieb sie mit sich allein. Erst als sie sich bereits zum Aufbruch rüstete, hörte sie wieder Gel" Paetows schweren Schritt vor der Tür. . „Was will er denn nun noch?" dachte sic bitter; der Kelch meiner Leiden noch nicht übervoll?" Diesmal blieb Gerd Paetow aber zwischen Tür Angel stehen. „Hanna," bat er mit bedrückter Stimme, „würden S"' mir einen Gefallen erweisen? Mit meiner Frau steht schlimm! Würden Sie so lange bei ihr bleiben, bis i« eben zum Arzt gelaufen bin? Wollen Sie, Hanna?" Es lag ihr auf der Zunge, ihm zu sagen, daß sie ihn nicht mehr kurzweg „Hanna", sondern „Fräulein Gr"' mann" sei, aber sie fand doch nicht den Mut dazu. WE auch schließlich? Wenn ihre Arbeit getan war, trennte" sich ihre Wege ja doch wieder. So neigte sie denn zustimmend den Kopf und folgte ih<" nach dem Schlafzimmer. Aber vor der Türe blieb sie zögernd stehen, und ersten Male richtete sie eine Frage an ihn: