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Wochenblatt für Reichenbrand, Siegmar, Neustadt und Rabenstein : 06.07.1907
- Erscheinungsdatum
- 1907-07-06
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Heimatverein Reichenbrand e. V.
- Digitalisat
- Heimatverein Reichenbrand e. V.
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1067801324-190707069
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1067801324-19070706
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1067801324-19070706
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Bestände des Heimatvereins Reichenbrand e. V.
- Bemerkung
- Vorlagebedingter Textverlust.
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wochenblatt für Reichenbrand, Siegmar, Neustadt und ...
-
Jahr
1907
-
Monat
1907-07
- Tag 1907-07-06
-
Monat
1907-07
-
Jahr
1907
- Titel
- Wochenblatt für Reichenbrand, Siegmar, Neustadt und Rabenstein : 06.07.1907
- Autor
- No.
- [2] - -
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Bett und lege den Kopf aus das Kissen und nun singe ich dir das versprochene Lied." Eine kurze Pause, dann zieht wunderbar sanft und leise das einfache Wiegenliedchen durch das halbdunkle Zimmer. Seine eintönige Melodie, vielleicht auch das beruhigende Mit tel drückten die schweren, müden Lider der Leidenden zu, die wachsbleiche Hand, welche noch soeben Benitas rosige Rechte hielt, löste sich langsam; der Schlaf, der beste und einzige Fremd der Traurigen, Sorgenvollen und Armen, senkt sich auf ihr Lager herab und ein Lächeln schwebte um den Mund; denn der Traumgott wischte für kurze Zeit alles Graue aus ihrem Gedächtnis und zaubert statt dessen bunte, farbenpräch tige Bilder hervor. Das junge, blonde Haupt auf demselben Kissen bleibt regungslos liegen, nach und nach verstummt der Gesang ves kleinen Liedes, Benitas blaue Augen schließen sich, sie schlummert leicht. Wie sie so uebeneinander ruhen, ist die Aehnlichkeit zwischen Mutter und Kind unverkennbar, nur daß die eine tiefbrünett und die andere blond ist. Bei den ist der lockige Ansatz des Haares um Stirn und Schläfe gemeinsam, sie haben dieselben seingezeichneten Brauen, die langen, seidenweichen, nach oben gebogenen Wimpern, nur die Augen, die sie mit ihrem dichten Schleier bedecken, sind verschieden in Farbe und Ausdruck. Das edle Oval, die etwas kurze gerade Nase mit den temperamentvollen, leise vibrierenden Flügeln, serner der zarte Mund mit dem schönen Kolorit, das Kinn mit dem Grübchen, es ist dasselbe Gesicht, Zug um Zug. Und doch ein Zug ist ihnen ge meinsam, der Zug, deu die Sorge mit scharfem Griffel in das Antlitz ihrer Lieblinge schreibt, nur daß es sich bei der älteren Frau übersetzen läßt in: ich trage Leid und hoffe nichts mehr, und bei dem jungen Mädchen: ich kenne schon die Sorge. Das ist die Philosophie von 16 und von 34 Jahren! — Während die völlig erschöpfte Mutter tief und fest schläft, bewegt sich das junge Mädchen öfters leise; einmal hebt sie sogar das Haupt und lauschte gespannt. „Noch immer nicht," murmelt sie undeutlich, dann sinkt sie wieder zurück, und nur das leise Ticken der kleinen Wanduhr, das matte Flackern der sterbenden Lampe bringen Licht und Klang in das stille Zimmer. Und nun fängt draußen der Kampf des jungen Tages mit der grauen Dämmerung der langen Februarnacht an. Allmählich schlüpft ein schwaches Zwielicht durch die nur schlecht schließenden, rissigen Vorhänge. Ein allzu lebhafter Schimmer trifft die geschlossenen Lider Benitas, sie blinzelt schläfrig und will sich eben bequem hinlegen, da erhebt sie jäh das Haupt und lauschte ängstlich aufmerksam. Die Lippen teilen sich und ein Ausdruck von Furcht gleitet über das rosige Gesicht. Schwere, unsichere Schritte sind auf der Treppe vernehm bar. Sie springt empor. Jede Spur von Müdigkeit ist verschwunden. In ihrem weitgeöffneten Blick ist eine große Angst deutlich zu lesen. Sie verläßt das Zimmer und schließt behutsam fest die Türe. In dem kleinen Salon zeigt das grelle, unerbittliche Frühlicht dieselben Spuren schäbiger Verarmung und des Heruntergekommenseins: die mißfarbigen, verblichenen Möbel, die gestopften und geflickten Gardinen, die erblindete, abgesprungene Politur; den schlechten Fußboden bedeckt kein Teppich, die geschwärzten Tapeten, die verräucherte Zimmerdecke, alles redet seine ergreifenden Sprache, die Sprache des Elends. — Benita huschte, ohne die ihr längst vertraute Verkommenheit eines Blickes zu würdigen, durch den kaum sieben Schritte langen, ärmlichen Salon, der diesem Namen wenig Ehre macht. Sie steht vor der Tür und hat die Hände fest ineinander geschlungen, sie ist totenbleich, bis in die frischen Lippen hinein. Von außen tastet jemand an der Klinke umher, sie öffnet hastig. Ein großer Mann stolpert über die Schwelle, Haar und Bart sind unordentlich und der Anzug ist befleckt und ver tragen, der Blick der großen, tiefblauen Augen ist stier und unheimlich; er ist vollständig berauscht und lallt mit stocken der Zunge die Worte: „Schläft die Mutter?" „Ja, Vater, aber bitte, sei recht leise, komm stütze dich auf mich, ich bringe dich auf dein Zimmer. Tritt sachte auf wenn wir an der Türe vorbeikommen." Der leicht dahingleitende Schritt des jungen Mädchens, der schwere, schlürfende des Mannes, — gottlob sie sind vorüber an dem Zimmer der Kranken. Der Mann sinkt auf einen Stuhl. „Sage es ihr nicht, daß ich wieder getrunken habe," murmelt er halb weinerlich, „es ging nicht anders, ich mußte mithalten. Siehst du, die Tasche ist leer, und der Kopf schmerzt mich und hier, hier tut's noch mehr weh, Kind," er deutet aus seine linke Seite. „Ich bin euer Unglück, Benita, ich verdiene nur noch totgeschosseu zu werden." Er fing jämmerlich an zu weinen, sein Kopf sank tiefer ans die Brust und er stotterte unzusammenhängendes Zeug durcheinander. Er muß einst ein sehr schöner Mann gewesen sein, ehe das unselige Laster ihn in den Schmutz zog und herabwürdigte. Groß und schlank gebaut, mit Hellem Haupt- und Barthaar, kraftvollen, markierten Zügen, schien er das Ideal männlicher Vollkommenheit zu sein, mir das zurückge- treteue Kinn, der charakterlose, leicht zuckende Mund beein trächtigen den Eindruck seines Gesichtes, dem man mehr Würde und Energie, mehr Verfeinerung, etwas Edleres und Geistigeres gewünscht hätte. „Lege dich nieder, Vater?" bittet das junge Mädchen nochmals eindringlich. Sie hilft ihm beim Aufstehen, er strauchelt und wäre gefallen ohne ihre Stütze. Die wuchtige Hand drückt bleischwer auf die zarten Schultern, aber sie wankt nicht, sie ist ihm behilflich, den Rock und die Stiefel auszuziehen, dann deckt sie ihn zu und läßt den Rouleaux nieder. Noch ehe sie damit fertig ist, schnarcht er im schweren Schlaf der Trunkenen. Sie schließt die Tür und tritt in den Salou zurück. — Unterdessen ist es ganz hell geworden und das indiskrete Licht verrät weitere Schäden, Flecke und Risse in der Einrichtung des Zimmers. Nnr ein Gegen stand braucht nicht die mitleidlose Kritik des jungen Tages zu scheuen: es ist das Bild, welches im breiten, kostbaren Goldrahmen über dem wackeligen Sopha hängt. Der Sonnen strahl, der es liebkost, zeigt ein junges, wunderschönes Ge sicht, einen künstlerisch gemalten, dunklen Frauenkopf im bräutlichen Schmuck. — Eine Welt von Glück und Liebe liegt in den weichen, großen Sammetaugen, und ein frohes, strahlendes Lächeln teilt die roten, frischen Lippen, während das nachtschwarze, üppige Geringes des herrlichen Haares von den duftigen Wellen des überaus feinen Spitzenschleiers bedeckt wird. Die Gestalt in dem weißen, schweren Seiden kleide ist nun vollendet in der Form und das Kolorit des Teint gleicht dem einer zart angehauchten Rose. Benita bleibt einen Moment vor dem Bilde stehen und hebt die Augen zu ihm empor. „Arme Mutter!" haucht sie und die Stimme ist von Tränen verschleiert. Sie tritt ans Fenster und öffnet es hastig, eine dunkle Gasse liegt tief unter ihr, sie wohnen im vierten Stock. Muntere Sperlinge zwitschern auf den Dächern, einzelne Wagen fahren zum Markt; ein Milchverkäufer schreit seinen eintönigen Morgenruf vor den Türen seiner Kunden, eine Magd geht fröhlich singend mit ihrem Eimer zum nächsten Brunnen. Die kühle, erfrischende Luft umspielt Hals und Nacken Benitas, sie atmet tief und durstig, als müßte sie dadurch etwas widerliches, unreines, sie befleckendes von sich zu wälzen. Lange lehnt sie am Fenster und sieht, wie sich der Himmel blau und blauer färbt und wie allmählich die Sonne in ihrer vollen Pracht emporsteigt. Sie vergoldet das Kreuz der nahen Kirche und wirft fast einen Glorienschein um das junge, aschblonde Haupt, das so früh sich beugen gelernt hat in der Schule des Lebens. Benita schließt eben das Fenster, da dringt ein glockenheller Laut an ihr Ohr, ein silberhelles Kinder lachen, das in einem leisen Girren, wie das einer Taube verhallt. Ein glückseliger Ausdruck huscht über ihr ernstes, reizendes Gesicht. „Harald ist erwacht," sagt sie und eilt in das anstoßende Gemach. In einem schneeweißen Gitter- bettchen sitzt ein kleiner, etwa ein Jahr alter Bube, er streckt beide Aermchen der Schwester entgegen; seine linke Wange glüht wie ein roter, pausbackiger Apfel. Eine alte Wärterin ist damit beschäftigt, einige Kleidungsstücke zurechtzulegen. „Bitte, Lina, ich möchte Harald ankleiden," ruft das junge Mädchen, „du kannst unterdessen seine Milch wärmen." Wie sie ihr Brüderlein emporhebt und ihn herzt und lieb kost, denkt sie bei sich, daß hier kein Schatten ist, nur Sonne und Glück; sie spricht zärtlich zu ihm, als die Alte heraus gegangen ist: „O du mein Sonnenstrahl, mein Herzblatt, mein süßer Liebling, du sollst es gut im Leben haben, ich will dich hüten und pflegen, dich schützen und lieben, daß kein rauher Wind meine zarte Blume erreiche!" Das ist die Umgebung, in der Benita von Sanct-Arbain erwuchs. 2. Kapitel. Rückblick. Es war nicht immer so gewesen! Benita erinnert sich der Tage vor sieben bis acht Jahren, wo sie mit ihren Eltern in einem großen schönen Schlosse lebte, umgeben von einem weiten herrlichen Park, in dem riesige, uralte Eichen, schlanke Birken und breitwipfelige Buchen standen und kühlen grünen Schatten spendeten. Ein blauer, glitzernder See lag zu den Füßen des stattlichen Hauses, Schwäne zogen langsam über seine klare Flut zwischen träumerischen Wasserrosen und ein weiß und grün gemaltes schlankes Boot schaukelte sich leicht auf dem Wasser, das von zahllosen kleinen Wellen gekräuselt wurde. Sie sieht sich in weißem, reich gesticktem, sehr kurzem Sommerkleidchen auf der Treppe stehen, die kleine Hand voll Zuckerstücke. „Flock, Flock, Flock!" ruft ihre Helle Stimme und sie blickt erwartungsvoll und ungeduldig die lange, schattige Allee von rotblühenden Kastanien herab. Neben ihr steht eine etwas steife, semmelblonde Engländerin Miß Towshill, die das wilde Kind jeden Augenblick anruft: „Dies laute Rufen schickt sich nicht, mein Liebling, — es ist ja schrecklich!" das bekommt sie jeden Moment zu hören. „Flock, Flock, Flock!" ruft sie nochmals lauter und unge duldiger. Und dann den Kopf halb über die Schulter zur Miß wendend, fragt sie in reinstem Englisch: „Er kommt nicht, darf ich nicht selbst nach dem Stall laufen, um «ach ihm zu sehen?" „O nein," ruft die entsetzte Gouvernante, „o tun Sie es nicht, was sollen die Bedienten davon denken? Es ist nicht schicklich." Trotz des Verbotes hebt sich der kleine Fuß, da springt laut wiehernd ein winziger, zottiger, schwarz brau ier Shethland-Pony durch die Allee. Sie springt die Steinstufen hinab und gibt ihm den Zucker, den er voll Behagen zerkaut, wobei er den Kopf mit der langen, lockigen Mähne an ihrer Schulter reibt. Sie schlingt beide Aermchen um seinen Hals. „O, mein schöner, teurer Liebling," ruft sie und küßt die samtweiche Schnauze des hübschen Tierchens. Und nun beginnt eine wilde Jagd um den großen Rasenplatz; das Pferdchen, lustig wiehernd und ausschlagend, voran, das Kind hinterher mit fliegenden Locken und fröhlichem Gelächter. „Nita, wie können Sie," ermahnt Miß Toweshill entsetzt, „wie ein Stalljunge!" „Soll ich den Ponywagen zu einer Spazierfahrt bestellen?" schmeichelte sie. Aber die Gouvernante antwortete steif: „Sie müssen erst Ihre Lektion lernen, wir werden später sehen." Das rote Mäulchen verzieht sich zum Schmollen, die Träne blitzt in den dunkelblauen Augen; sie will eben lebhaft widersprechen, da tritt ihre Mutter zu ihr hinaus und ein Blick auf das geliebte Antlitz derselben macht sie sofort ge fügig und lenksam. Warum sicht sie oft so traurig aus, warum ist sie oft, fast immer, allein in den letzten Jahren? Nita ist eben erst 8 Jahre alt und weiß cs nicht, sie macht sich nach Kinderart nicht lange Sorge um eine Sache; sie merkt nur, daß es lustig hergeht, wenn ihr Vater wiederkommt, meist mit einem Schwarm fröhlicher Gäste. Ein Fest jagt das andere. Dann strahlt das Schloß in einem wahren Lichtmeer. Die seltenen Bäume und Sträucher sind von vielen Hunderten von bunten Lampen illuminiert und die ganze Pracht spiegelte sich im See wieder; Feuerwerk erhellt für kurze Zeit den nacht schwarzen Himmel und Raketen zischen wie riesige, glühende Schlangen bis zu den Sternen empor. Musik ertönte heiter durch den hohen, weißen Saal und schön geschmückte Paare tanzen zu den Klängen derselben. Wie schön die Mutte: ist in dem blaßgelben Seidenkleide mit den roten Rosen im dunklen Haar und an der Brust! Sie ist die schönste von allen Damen, strahlende Diamanten funkeln und schimmern an ihren weißen Armen. Weshalb sie so selten lacht, weshalb schauen ihre großen Augen so ernst drein? Der Vater ist desto fröhlicher, er scherzt und lacht immerfort, seine laute Stimme übertönt sogar die geräuschvolle Musik. Sie liegt in ihrem Himmelbettcheu, da rauscht es leise neben ihr und zwei weiche Arme umschlingen das schon halb schlafende Kind „Gute Nacht, mein Kind, meine Nita; träume süß, mein Liebling!" Ihr kleines Gesicht ist naß, wie die Mutter sie herzt und küßt, warum wohl? Wenn keine Gesellschaft im Schloß, ist, wenn sie allein sind, heißt es oft, der Vater sei krank ! Dann ist er deu ganzen Tag über unsichtbar und kommt abends bleich und übellaunig, reizbar und verdrießlich in den Salon j oder auch auf die Veranda. Zuweilen küßt er die Hände! der Mutter und verspricht ihr mit tausend Versicherungen und etwas heiserer Stimme, es solle anders werden. Nitn versteht nichts davon, nur daß irgend etwas trauriges, geheimes im Hause geschieht, etwas, was sie nicht wissen darf, begreift sie. Sie ist nun schon ein großes Mädchen, bald neun Jahre alt, da spielt sie eines Tages mit ihren« großen bunten Gummiball auf dem Rasenplatz vor dein Hause; da kommt die Kalesche mit den beiden prächtigen Schimmeln die Kastanienallee herabgerollt. Es ist der Vater, der aus der Stadt kommt. Sie springt ihn fröhlich ent gegen; denn sie hat ihn lieb, nicht so wie die Mutter, wie kann man das vergleichen, aber wie einen guten Kameraden, der ihr immer etwas schönes schenkt, sie nie ermahnt und ihr alles erlaubt. Gewiß hat er heute etwas herrliches in der Stadt gekauft, sie eilt auf den Wagen zu. „Papa, Papa!" jubelte sie. Er sieht sie stier an, er kennt sie nicht und stolpert die Treppe hinauf, von dem herbeieilenden Diener unterstützt. Wie seltsam, ganz so sah der alte Fried- reich, der erste Kutscher aus, als er vom Jahrmarkt in L kam; da lachten und spotteten die anderen Dienstboten und sagten, er wäre betrunken. — Sie schleicht sich scheu ins Haus, da hört sie, wie das Dienstmädchen Lotte zu einer anderen Magd sagt: „Der Herr ist schon wieder ganz betrunken aus der Stadt gekommen, die arme gnädige Frau!" Wo nnr die Mutter sein mag, Benita wagt es nicht, sie zu rufen; sie sucht sie überall. Endlich findet sie sie, aber wie? Sie liegt in ihrem schönen Boudoir auf del Erde, den Kopf in die gefalteten Hände begraben, dieselben stützen sich ans die schwellenden Atlaspolster der Chaiselongue und Benita schluchzt herzzerbrechend, verzweifelt: „Mutter, Mutter, mein einziges Mütterlein, weine nicht, bitte, ich bi" da, dein kleines Mädchen, deine Nita " Die Mutter zieht sie in die Arme, aber Benita ist im Augenblick mit etwas ganz anderem beschäftigt, sie kann auf das dunkle Haupt der Kostende herabsehen und sieht silberne, schneeweiße Fäde" in den seidenweichen Haarwellen. Wie kommt das, die Mutter ist ja noch so jung, nur alte Damen_..haben doä graue Haare! — Seit diesem Tage beginnt das Kind die Schande und Erniedrigung seines Vaters zu begreifen, sie versteht auch, weshalb die Mutter so ernst und traurig dreinschaut, weshalb ihre Stimme so tonlos ist, so müde. Die graue Farbe schleicht langsam herein, sie macht sich breit und breiter, daß selbst die frohen Kinderaugen sie zu bemerken ansangeu. An noch frühere Zeiten denkt Benita. Da taucht, WÜ ein großes, farbenreiches, buntes Bilderbuch, vor ihren« inneren Auge eine große Stadt auf mit hohen Kirchen und Häusern, Plätzen und Säulen, in den Straßen ist ein buntes, fröhliches Treiben; die Menschen sind alle in den grellste" Farben gekleidet und tragen eine Larve vor dem Gesicht' Sie muß noch laut in der Erinnerung lachen, wie drollig manche sich vermummt haben. Ein wahrer Rege" von Blumen trifft die Vorübergehenden. Von den reich geschmückten Balkons und Fenstern blicken dunkeläugige Frauen lachend hernieder; es ist, als lache alles. Die Menschen, Straßen und Häuser haben ein Feiertagsgewaiid an und der Himmel ist viel blauer und die Sonne viel heißer und viel strahlender als daheim. Ihre Erinnerung ist aber lückenhaft, sie sieht das Bilderbuch, als ob es zerrisse" ist: hier auf einein Eckchen sind hohe Berge, das flammende Abendrot küßt ihre schneebedeckten Spitzen, daß sie rosig erglühen. Ein großer See schillert in all den leuchtende" Farben des Regenbogens; dann wieder hört sie das Meck ebben und fluten und sie spielt mit noch vielen andere" Kindern im Sande, sie bauen Festungen und Wälle, Schlösser und Burgen, da steigt allmählich das Wasser und zerstör« ihr mühsam errichtetes Werk. Plötzlich verschwindet alles in undeutlicher Ferne, es ist, als lege sich ein dichter Nebel um ihre Erinnerung. So bunt und bewegt ihr die erste" neun Jahre ihres Lebens erschienen, so still und einförmig sind die nun folgenden. Sie weiß es noch, wie sie an eine«" naßkalten Novembertage in die große Kutsche stiegen, uiw daß viele Koffer und Kisten an den vorhergehenden Tage" gepackt wurden. Große Wagen mit Möbeln sind abgeschickt worden und das Haus sieht leer und ungemütlich aus- „Wohin gehen wir, Mama?" fragte sie verwundert. „W«r ziehen fort, Nita," hatte die Mutter geantwortet, und wieder hatte der Ton ihrer Stimme dem Kinde das kleine Herz zusammengeschnürt. „Werden wir nie wiederkommew Mama?" „Nein, Benita, nie wieder!" „Aber Flock dar« ich doch mitnehmen, nicht wahr?" Die Mutter zieht sie in die Arme und zögert mit der Antwort, wie die Kleine sie angstvoll, flehentlich anblickt, schüttelt sie den Kopf und wendet sich ab. „Flock muß hier bleiben, mein Herzblatt, sagt sie und küßt das blonde Haupt, während ein unsag' bares Weh ihre Augen so groß und feucht schimmern läßt' Sie gleitet voin Schoße der Mutter herab und eilt in de» Stall. Dort steht sie neben ihrem vierbeinigen Freunde, sie lehnt das goldige Köpfchen an sein glänzendes braunes Fell und umschlingt ihn mit den beiden Aermchen: „Leb wohl, mein einziger Liebling, mein Liebstes," schluchzt sie
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