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ich kenne die Station an der Gegend. Schloß Bicken ried müssen wir doch auch bald sehen?" „Erst von der nächsten Station, von Pforzen aus", antwortete Irma. „Dort wendet sich die Bahn nach rechts, durchbricht den waldigen Höhenrücken da drüben und läuft im Wertachtale weiter." „Wie lauge haben wir noch zu fahren, Irma?" „In zwanzig Minuten sind wir in Kaufbeuren, Vater." Ein längeres Schweigen trat ein. Irma hauchte wieder auf die dichtgefrorene Fensterscheibe an ihrer Seite und sah in freudiger Aufregung in die wohl bekannte dämmernde Landschaft hinaus, während ihr Vater gedankenvoll vor sich hinblickte!" „Bickenried!" rief Irma plötzlich. „Oh, was hat sich alles verändert, seit ich an dieser Stelle den letzten Abschiedsgruß zum Schlosse hinüberwinkte!" „Sieht man's?" fragte Berger ungewöhnlich erregt, indem er hastig den Zugriemen des Fensters ergriff und letzteres herunterließ. „Ja, es hat sich vieles verändert, Irma", sprach er tief ergriffen, während seine Augen auf dem Schlosse ruhten, das über die Wasserdünste des vorgelagerten Wertachflusses und den schneebedeckten Wald herüberragte; „Du hast viel Eleud gesehen und gelindert seit jenem Abschiedsgruße; nun bist Du eine glückliche Braut und ich bin — freigesprochen!" Gleich darauf tauchte das im Tale liegende an mutige Städtchen auf, und wenige Minuten später rollte der Zug über die Wertachbrücke und dann an dem buntfarbigen Betriebsgebäude des Bahnhofes vorüber. „Karl wartet bereits auf den Perron!" rief Irma und winkte mit dem Taschentuche hinaus, bis der Zug still stand. „Ist sonst niemand da?" fragte Berger. „Nein, Vater; Karl ist allein." „Irma!" rief Schütz in diesem Augenblicke mit glückstrahlendem Gesichte, indem er rasch das Trittbrett des Wagens bestieg und die Coupetür öffnete. Er trug noch den Arm in der Binde, aber sein Aussehen war gesund und seine Haltung jugendlich rüstig. Nach der gegenseitigen herzlichen Begrüßung gab Berger seinen nach Bickenried adressierten Reisekoffer bei der Bahnpost aut, während Jrma's Gepäck von einem Bediensteten nach der Stadt getragen wurde, wo Josef mit dem Schlitten wartete. „Kinder, ich verabschiede mich hier", sagte Berger, indem er Irma und Schütz die Hand reichte. „Ihr kommt gegen 6 Uhr nach Hause, ich werde bis läng stens halb 7 Uhr in Bickenried eintreffen. Auf Wieder- fehen unter dem Christbaume!" Berger betrat den Wartcsaal, während Irma und Schütz der nahegelegenen Stadt zugingen und sich in glücklichem Geplauder ihre letzten Ergebnisse erzählten. Schütz hatte zum erstenmal Gelegenheit gefunden, dem geliebten Mädchen den Arm anzubieten, und er schwamm in Seligkeit, als Irma sich mit leisem Beben an seine Seite schmiegte, als wollte sie dort Schutz vor dem eisigen Lufthauch suchen, der über die Wertachauen herüberwehte. „Wo wartet der Josef?" fragte sie. „Im Gasthaus zum Hasen, gleich die erste Wirt schaft rechts", antwortete Schütz. „Ich habe den Josef zu einem Buchbinder geschickt, bei dem ich vor ein paar Tagen einen Christbaumschmuck bestellte." „Oh, ich freue mich unendlich nach Hause", sagte Irma. „Die Mutter und der Herr Großvater zählen die Minuten, bis Sie kommen", erwiderte Schütz. Sie hatten inzwischen die Wirtschaft erreicht. Josef, der gerade zur Haustüre heraustrat, eilte hoch erfreut auf Irma zu, die ihrem Verlobten für ein paar Augenblicke den Arm entzog und dem alten Manne mit kindlicher Freude die beiden Hände ent gegenstreckte. „Jetzt werden's wohl nimmer nach Frankreich uei' geh'n, Fräulein Irma", begann dieser nach der ersten Begrüßung. „Sie haben in den fünf Monaten g'nug aussteh'n müass'n und als Braut hat man gar viel z' denken, und herz'richten." „Nein, Josef, ich gehe nicht mehr fort", erwiderte Irma. „Nimmer fort?" fragte der Alte mit fast betrübter Miene. „Mei' Gott, so lang bleiben's halt daheim, bis Sie der Herr Leutnant holt. Mit den Kindern is a eigentümlich's Ding. Z'erscht san's immer um ein 'rum, ma meint, es müaßt all'weil so bleib'n; ma' sieht's gern ei'schlafen, wann's Nacht wird und g'freut si', wann's in der Fruah wieder munter auf wachen. Nachher werden's größer, und auf ei'mal san's draußen'n aus'm Haus, und Alles is rum." „Das ist der Lauf der Welt, lieber Josef", sagte Schütz. „Eing'spannt is, meine Herrschaften! Fahren wir glei' heim?" „Freilich, Josef, so schnell als möglich", erwiderte Irma. Schütz und Irma nahmen neben einander im Schlitten Platz, und Josef wickelte einige wollene Decken sorgfältig um ihre Füße. Bald hatten die Reisenden das alte Städtchen hinter sich und der mit feurigen Pferden bespannte Schlitten schoß mit eintönigem Geklingel über das silberglänzende Sträßchen hinweg. Links ragten die Tannenspitzen des bewaldeten Höhenzuges blendend weiß und scharf in den nächtlichen, sternfunkelnden Himmel hinein, und zur Rechten qualmten die Wasser dämpfe der Wertach in die eisige Luft empor. Hinter den östlichen Höhen stieg langsam die große, rot glühende Scheibe des Vollmonds herauf. Irma und Schütz saßen schweigend nebeneinander. Der Zauber der ersten Liebe durchströmte ihre jungen Herzen, und das Viele, was sie sich zu sagen hatten und sich sagen wollten, lähmte ihre Zungen. Als jedoch der Schlitten in scharfem Bogen in den winter lichen Wald einschwenkte, der wie ein Mächenreich die Liebenden umfing, erfaßte Schütz die im Muffe versteckte Hand des jungen Mädchens. „Irma, ist es kein Traum, bist Du wirklich da?" fragte er leise und innig. Das trauliche „Du", das unbewußt von seinen Lippen klang, schien wie ein Zauberformel auf den Bann zu wirken, der die süßen Impulse der jungen, unverdorbenen Herzen gefangen hielt und vor! dem Ueberguellen schützte. Irma lehnte ihren Kopf an seine Schulter, ihr warmer Atem streifte seine Wange, und zärtlich hauchte sie: „Es ist wahrlich wie ein Traum, Du lieber, guter Karl. O, wie schön, wie herrlich schön ist doch die Welt!" Josef auf dem Schlittenbocke hatte den beiden den Rücken zugewendet, und eine lange, dicke Haube bedeckte seine Ohren; er war in Gedanken in seiner warmen Stube, wo er die liebe Pfeife beim Glühpunsch schmauchen konnte; er merkte nichts und schwieg. Die Waldmännlein und Gnomen, die an den Straßen ecken standen und blendend weiße Müllersäcke trugen, belauschten die Glücklichen und blieben treuverschwiegen. Auch dem zierlichen Reh, das vor dem Schlitten durch die Lichtung setzte und dann am Waldsaum stehen blieb und nach dem Pärchen äugte, war wohl zu trauen. Eine Schleiereule hob sich von einem schnee beladenen Tannenast empor nnd schwebte schelmen- haft hinweg, bevor das Fahrzeug nahte und tausende von krystallenen, zarten Nadeln stoben von dem leicht beschwingten Aste wie ein feiner Silberregen nieder. — Das Märchenreich barg nicht ein einziges Wesen, das den ersten seligen Kuß der Liebenden verraten hätte. Plötzlich öffnete sich der Wald und vom Monde fast taghell beleuchtet, lag Bickenried vor ihnen. Einige Minuten später hielt der Schlitten im Schloßhofe, und die Liebenden machten sich von den Decken frei, die ihre Füße gefesselt hielten. Oben, im Schlosse wurde ein Fensterflügel geöffnet und wenige Augen blicke darauf erschien Frau Hartfeld unter dem Portale und eilte den Ankommenden entgegen. „Mutter, liebe Mutter!" rief Irma, indem sie der Frau in die Arme eilte. „Grüß Dich Gott, Kind! erwiderte diese freudig bewegt. „Gottlob, daß Du wieder da bist. Herr Leutnant, kommen Sie doch!" rief sie daun Schütz zu, der eiu kleines Paket unter dem Schlittenbocke hervorgeholt hatte und nun gleichfalls dem Schlosse zueilte. „Guten Abend, liebe Mutter!" grüßte er, während er Frau Hartfeld die Hand küßte. „Das war eine wunderbare, unvergeßliche Schlittenpartie." Frau Hartfeld lächelte, und beide folgten Irma, die rasch die Treppe hinaufeilte, auf deren oberster Stufe der General stand, der dem Mädchen die Hände entgegenstreckte. „Du bist in Uniform, Großpapa?" bemerkte Irma, als sie sich umarmt und geküßt hatten, verwundert. „Ich sehe Dich zum erstenmal als General." „Ich habe mir die Uniform Eurer Verlobung zu Ehren beschafft", erwiderte der General, als sie Hand in Hand dem Wohnzimmer zugingen. „Kind, das war eine trübe Zeit, während Du fortgewesen", fuhr er fort, als alle in dem warmen traulichen Raume beisammen waren. „Mir ist, als ob mit Deiner Heimkehr der so lang entbehrte Sonnenschein wieder komme. Du schaust mich ganz verwundert an, Irma. Findest Du mich sehr verändert?" „Die Uniform kleidet Dich sehr gut, Großpapa", erwiderte Irma. „Ich finde Dich viel stattlicher als früher. Du siehst aus wie ein rüstiger Sechziger." „Du bist ein Schmeichelkätzchen", sagte der alte Herr mit wehmütigem Lächeln. „Mit meiner Rüstig keit ist es wohl nicht weit her; der heurige Herbst hat mir stark zugcsetzt. Wie die Blätter gefallen sind, habe ich mir gedacht: Jetzt wird's Dich auch weg fegen. Na, wollen wir von was anderen reden. Ich freue mich, daß ich Dich nochmal gesehen habe, Kind. Wenn nur der Georg auch da wäre." „Von Georg soll ich viele Grüße ausrichten", sagte Irma; er hat mich vor 14 Tagen in Orleans besucht, konnte sich aber nicht lange aufhalten. In Gedanken wird er heute den ganzen Abend bei uns weilen. Wie hübsch wäre es, wenn er auch daheim sein könnte." „Bald hätte ich darauf vergessen — für Sie ist ein Brief angekommen, Herr Leutnant", sagte Frau Hartfeld, während sie auf den Schreibtisch zuging. „Er ist vom Kriegsschauplätze." „Da bin ich begierig", sagte Schütz, während er die Schrift auf dem Couvert flüchtig besah und dann den Bries öffnete. „Vom Michel!" rief er dann angenehm überrascht. „Was, von dem guten, treuen Burschen?" fragte Irma lebhaft. „Was schreibt er denn?" „Geliebter Herr Leutnant Schütz!" begann Schütz. „Entschuldigen Herr Leutnant gehorsamst, indem daß ich einmal schreibe, wie es mit unserem Bataillo in Frankreich zugehth seit sie leider Gottes so schwehr verwundet worden sind in Bazailes was mir Fürchter lich schmerzlich gwesen ist indem daß ich meinen guten Herrn verloren hab wis kein Zweiten mehr gibt. Wir haben jetzt eine grimige Kält alle Tag und wird wol Daheim auch so sein. Die Füß hab ich auch schon verfroren indem daß ich in Orlean 4 Tag im Krankenhaus gew essen und wieder einmal etwas Wamrs znm essen. Am 10. Dezember sind 150 Mann ersaz kommen und ist jetzt wieder stärker als forher. Bei Kulmie 40 Mann am 9. November und bei Wilbion am 1. Dezember 4 Offizier und 145 Mann von Nachmittag halb 4 bis 5 Uhr verloren. Da hab ich die silberne Medaile kriegt, Herr Leutnant. Alle Herr Hauptmann und Oberleutnant sind ver wundet, und in der Schlacht bei Bogansi hat vom 8. bis 10. Dezember dauert 3 Tag sind die Kom pagnien von denen Herrn Leutnant gfürt worden. Herr Leutnant Hartfeld hat mir gesagt daß in der Heiligen Nacht ein schönes Fest ist bei ihnen Da heim indem daß sich Herr Leutnant verloben mit der Schwester vom Herrn Leutnant Hartfeld die aber auch so schön und braf ist wie sie mein guter Herr Leut nant Schütz verdient. Wie ich in Bazeiles gement hab sie sind Tod und haben sie gesucht in der Finstern Nacht und den Herrn Major Berger an demselbigen Bach bei Monwill da hab ich schon gemerk daß sie ihnen arg gern hat ich hab mich aber nicht recht auskent indem daß sie eine Klosterfrau gewessen ist. Ich wünsch Herrn Leutnant gehorsamst und der erwirdigen Schwester ein recht schönes Weihnachtsfest und daß alle Zwei recht glücklich werden im neuen Jahr wenn ihr heirat und der Frieden kommt und wieder Heimkehren in die liebe Heimat. Ich hab immer Heimweh nach dem Herrn Leutnant und ver bleibe mit den schönsten Grüßen gehorsamst ihr ge liebter hochgeschätzter Michael Meier." Der Brief bewirkte eine fast heitere Stimmung unter den Zuhörern. „Der gute Michel hat sich jeden falls sehr angestrengt", sagte Schütz erfreut. „Ich werde ihm seine Treue und Anhänglichkeit nie vergessen." „Das scheint ein zweiter Josef zu sein", versetzte der General. „Solche Menschen werden immer seltener." „Herr General waren wohl schon lange nicht mehr in Uniform?" fragte Schütz, als sich alle am Tische niedergelassen hatten. „Das ist freilich lange her, mein lieber Herr Leutnant", erwiderte der General. „Heute sind es genau 17 Jahre, seit ich des Königs Rock ausgezogen habe; es war am 24. Dezember 1853. Ich war an jenem Tage noch bis gegen 11 Uhr vormittags im Dienste, und als ich nach Hause kam, traf ich auf dem Gange vor meiner Wohnung den Kaufmann Lorenz, der mir das Ergebnis der Verhandlung meines Schwiegersohnes mitteilte. Als er fort war, vertauschte ich den Waffenrock mit der Ziviljoppe, setzte mich hin und schrieb mein Pensiousgesuch." „Oh jener unglückselige Weihnachtsabend", sagte Frau Hartfeld düster. „Ich glaube, für mich kommt kein ungetrübtes Weihnachten mehr. „Ich unselige — gerade um diese Zeit war es; auf die Stunde sind es siebzehn Jahre, seit die Türe zum letztenmal hinter ihm zufiel. Und ich hab' ihn gehen lassen in seinem Elend!" „Quäle Dich nicht länger mit diesen trüben Er innerungen, liebe Mutter", sagte Irma. „Der Vater hegt nicht den leisesten Groll gegen Dich, und er wird wiederkommen." „Irma — Du sprichst so bestimmt ... Du weißt mehr", sprach Frau Hartfeld erblassend. „Hat Dir der Major Berger ... Du hast geschrieben, auch er sei überzeugt, daß der Vater lebt." „Ich weiß alles, Mutter; aber ich darf nichts verraten. Eines aber darf ich heute sagen: Der Vater lebt!" „Er lebt — Dein Vater lebt?" rief der General mit bebenden Lippen. „Irma . . . Kind, ist es denn wirklich war? Es kann ja nicht —" „Wer hat Dir verboten, zu sprechen, - Irma?" fiel Frau Hartfeld fieberhaft erregt ein. „Der Vater selbst!" erwiderte Irma. „Der Vater?" kam es langsam von den bebenden Lippen der Frau, und aus ihren weitgeöffneten starren Augen leuchtete es wie Wahnwitz. Einige Augenblicke herrschte atemlose Stille. Dann erhob sich Frau Hartfeld, und mit den zitternden Händen an der Tischkaute sich festhaltend, fuhr sie hastig fort: „Du kennst den Vater, Irma? Wo ist er . . . wo ist der Vater? Ich will zu ihm — heute noch will ich fort . . . fort — an's Ende der Welt