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Umstand, daß Hartfeld nichts mehr von sich hören ließ, obwohl er keinerlei Mittel und, was die Haupt sache ist, auch keine Legitimationspapiere und Zeug nisse bei sich hatte. Auch Ihr Zeugnis hat er in meinem Zimmer liegen lassen. Ohne Papiere hätte er ja nicht acht Tage frei umherlaufen, geschweige denn eine Stelle erhalten können." „Ja, Herr General haben recht. Es ist kaum denk bar, daß Herr Hartfeld noch lebt", versetzte Lorenz. „Unerklärlich aber bleibt es uns, warum er den Tod suchte, obwohl er unschuldig war", sagte der General nach einer Weile. „Das finde ich weniger unerklärlich", erwiderte Lorenz. „Hartfeld hatte ein reges Ehr- und Pflicht gefühl und war eine feinfühlende Natur. Der im Urteil enthaltene Satz, daß seine Freisprechung wegen mangels an Beweisen erfolgte, wirkte sicher sehr nieder drückend auf ihn. Die lange Untersuchungshaft von drei Monaten mag ebenfalls wesentlich zur Unter grabung seiner Willensstärke beigetragen haben. Was der eine gelassen erträgt, drückt den andern zu Boden. Der Schritt Ihres unglücklichen Herrn Schwieger sohnes geschah jedenfalls in einem Augenblicke voll ständiger Entmutigung; er hat vielleicht den letzten Halt verloren, an den er sich klammern wollte." Frau Hartfeld, die während des ganzen Gesprächs mit müdem, abgespannten Gesichtsausdruck dagesessen war, erblaßte bei den letzten Worten bis in die Lippen hinein. Verstört blickte sie ein paar Augenblicke in das Gesicht des Kaufmanns, dann erhob sie sich langsam und verließ, wie eine Träumende, das Zimmer. Lorenz geriet in die peinlichste Verlegenheit, denn seine Worte waren nur auf den General gemünzt gewesen. Er kannte den alten, verschlossenen Herrn gleich der ganzen früheren Umgebung desselben nur oberflächlich, hielt ihn für rauh und rücksichtslos und maß ihm allein die Schuld an dem tragischen Ende Hartfeld's bei. Seit jener Stunde, in der er dem General das Ergebnis der Gerichtsverhandlung überbrachte, nährte er einen leisen Groll gegen diesen, der anwnchs, als die Unschuld Hartfeld's an den Tag kam. Es war ihm ein Bedürfnis, diesem Gefühl in einem geeigneten Augenblicke Luft zu machen. „Ich muß gestehen, daß mich jenes Gerücht wider meinen Willen etwas beeinflußt hat", begann der General nach einer längeren Pause. „Ich kannte meinen Schwiegersohn sehr gut nnd hatte ihn lieb, aber ich dachte eben: Unmöglich ist es nicht, daß er in einer leichtsinnigen Stunde den Fehler begangen hat; ganz aus der Luft greift man derartige An schuldigungen nicht. Ich schwankte damals wohl, neigte mich aber doch mehr dem Glauben zu, daß er unschuldig sei. Ich hatte nicht die Absicht, ihn fallen zu lassen. Sein Tod erst festigte bei mir und meiner Tochter den Glauben an seine Schuld." „Ich erachte es als meine Pflicht, Herr General, die Enthüllung der Unschuld Ihres Schwiegersohnes durch die Presse zu veröffentlichen. Der Unglückliche war ein Opfer des menschlichen Irrtums, ein Märtyrer, und die Veröffentlichung ist notwendig zur Ehrenrettung des Toten." Der General ergriff die Hand des Kaufmanns und hielt sie mit einem langen Drucke fest. „Sie sind ein braver Mann, Kerr Lorenz", sprach er mit Wärme. „Hätte ich auf meinem Lebenswege nur Menschen getroffen, wie Sie, dann wäre ich niemals Pessimist geworden. Und nun verzeihen Sie einen Augenblick", fuhr er nach kurzer Pause weiter, „ich möchte nach meiner Tochter schauen; sie bleibt etwas lang aus." Als der General das Zimmer der letzteren betrat, blieb er erschüttert an der Tür stehen. Den Rücken dem Eingang zugewendet, kniete Frau Hartfeld am Tische in der Mitte des Zimmers und blickte, die Hände krampfhaft gefaltet, weltvergessen auf ein kleines, halberloschenes Glasbild vor sich. Hinter dem Bilde lehnte ein schwarzes Sterbekreuzchen, zu dessen Seiten zwei große Wachskerzen brannten. Der Greis stand lange regungslos. Dann trat er leise an den Tisch und legte die Hand auf die Schulter seiner Tochter. „Verzeihe, Marie", sprach er gerührt, „ich war besorgt, es sei Dir etwas Un angenehmes zugestoßen." Dann bemerkte er die Glas photographie auf dem Tische. „Was — der unglückliche Georg?" fragte er überrascht. „Ich habe nicht gewußt, daß das Bild noch existiert." Als keine Antwort erfolgte, fuhr er nach einigen Augenblicken weiter: „Vergiß nicht, Marie, daß Besuch da ist! Ich kann Dir's zwar nicht verübeln, Kind, aber Du hast das Zimmer verlassen, ohne Dich bei Herrn Lorenz zu entschuldigen." „Ich will ihm nicht mehr unter die Augen treten — keinem Menschen mehr! Ich bin eine Verworfene, eine Mörderin!" sprach sie mit dumpfer gebrochener Stimme. „Nein, Marie, das bist Du nicht", erwiderte der General. „Du warst jung und unerfahren, hattest keine Welt- und Menschenkenntnis, hast Deinen Mann nicht gekannt . . . meine Pflicht wäre es gewesen, das Unglück zu verhindern, ich hätte Georg besser kennen müssen; mich trifft alle Schuld!" „Du standest ihm fremd gegenüber, Vater — ich war seine Frau! Ich hätte unter allen Umständen zu ihm halten müssen, und würde ich das getan haben, so lebte Georg noch. Sein Tod ist einzig und allein meine Schuld! Vater — heute noch muß ich an sein Grab, das ich Herzlose noch niemals ausgesucht habe. Dort will ich knieen und beten und zu ihm flehen . . . er wird mir seinen Trost senden, der Georg; aber ich muß an sein Grab, Vater! Ich muß!" „Ja, tu' das, Kind", sprach der General mit fast lallender Stimme. „Reise heute noch nach Kelheim! Dort wird sich vielleicht der Alp von Deiner Brust lösen. . . . Wein' Dich aus dort, Kind! Und wenn Du an seinem Grabe kniest, Marie, dann — dann schließ mich ein in Dein Flehen und bring mir . . . gelt, Marie — bring mir ein wenig Erde mit von Georg's Grab!" Die Füße des Generals wankten, und er sank neben seinem verzweifelnden Kinde in die Knie. Durch die schmale Oeffnung des Fenstervorhanges drang in diesem Augenblicke ein Sonnenstrahl. Er fiel auf die glänzenden, blonden Wellenhaare der Frau und streifte den kahlen Scheitel des zitternden Greises, als wollte er Trost und Hoffnungsschimmer in die beiden niedergebeugten Menschenkinder gießen, in deren Herzen die verzehrenden Qualen einer unfruchtbaren Reue wühlten. X. Ein trüber Regenhimmel lag über den düsteren Höhen und Pässen des Argonnerwaldes, den die Heeres säulen der dritten deutschen Armee in Eilmärschen durch zogen. Die ausgefurchten Straßen der teilweise schlucht artigen Pässe wurden von enggeschlossenen Postenketten bewacht, und die bunten Uniformen patrouillierender Husaren belebten die dunkeln Waldgehege. Ließen auch Gang und Haltung eines großen Teils der Fußmannschaften Müdigkeit und Abspannung erkennen, so ging es doch in raschem Tempo vorwärts. Die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen deuteten darauf hin, daß man in der Nähe eines wichtigen Punktes sich befinden und wieder Fühlung mit dem Feinde ge wonnen haben mußte, den man seit Wochen aus den Augen verloren hatte. Von Zeit zu Zeit pflanzte sich, von den hintersten Linien ausgehend der Ruf: Rechts und links gehen!" durch die langen Reihen fort. Dann ließ sich ein dumpfes, immer näher kommendes Rollen vernehmen, bis schließlich ein Artillerieregiment oder einzelne Abteilungen eines solchen mit betäubendem Getöse zwischen den Reihen hindurchjagten. Während des aufregenden Schauspiels, das die in raschem Trabe dahineilenden Batterien mit ihren dampfenden Pferden und den kotbespritzten Geschützen und Munitionswagen darboten, verschwand der müde gleichgiltige Zug in den Gesichtern der Fußmann schaften ; fröhlich wurden die Grüße und unverständlichen Zurufe bekannter Kameraden erwidert, und manche beneideten die Fahrer und die auf den Geschützprotzen geschüttelten Bedienungskanoniere um ihr Los. Dann schlossen sich die Reihen hinter dem letzten Fahrzeug wieder und weiter ging's auf den mit Wasserpfützen bedeckten, lehmigen Straßen. „Die überraschende Rechtsschwenkung nach Norden erklärt sich immer mehr, Schütz", sagte der Hauptmann Schwarzwild zu dem neben ihm einherschreitenden Leutnant. „Sie werden sehen, morgen oder übermorgen geht der Tanz wieder los. Wir dürfen froh sein, wenn dieses verteufelte Gelände, dieser Argonnerwald, hinter uns liegt, bevor es zu einem ernsten Zusammen stoß kommt. Der Gegner hätte hier Verleidigungs- stellen, die uns warm machen würden, geradezu uneinnehmbare. Betrachten Sie einmal die Kalk schieferabhänge auf den beiden Seiten wieder! Die vollkommene Veroneserklause. Mit meiner Kompagnie da oben postirt, verwehre ich einer Brigade den Durchzug." „Die Argonnen umfassen ein ziemlich großes Gebiet, Herr Hauptmann", erwiderte Schütz, indem er eine verwitterte Karte hervorzog und entfaltete. „Sie erstrecken sich nach Westen bis zur Aisne, ihre südliche Grenze bilden die Quellen der Aire, nördlich lagern sich ihnen die Ardennen vor . . . wenn es keine Abschwenkungen gibt, erreichen wir morgen das Maastal. In letzterem liegt eine Festung — Sedan; scheint eine Grenzfestung zu sein, denn gleich daneben beginnt belgisches Gebiet." „Lieber Schütz, wenn Sie beim Marschieren be ständig in Ihre Karte gucken, werden Sie bald mit einer Pfütze nähere Bekanntschaft machen; da kommt ein schauerlicher Weg." „Ja, Herr Hauptmann haben recht", versetzte Schütz, indem er die Karte zusammenlegte und wieder einsteckte. „Angenehm wäre es, wenn endlich einmal ein Ort käme, in dem man für sein gutes Geld etwas Magen stärkung erhalten könnte", fuhr Schwarzwild fort. „Meine braven Jäger tun mir leid. Auch ich bin seit acht Stunden gänzlich abgebrannt. Sie haben natürlich noch reichlichen Proviant, Schütz?" „Ich verfüge noch über einen Zigarrenstummel und einen mäßigen Schluck Kognak. Darf ich dem Herrn Hauptmann meine Flasche anbieten?" „Sie sind ein Ideal, alter Freund", sagte Schwarz wild, indem er mit leuchtenden Augen die Feldflasche ergriff. „Selbstverständlich werde ich nur nippen . . . Besten Dank, lieber Schütz! Ich habe noch zwei Zigarren; die wollen wir auch brüderlich teilen." „Danke gehorsamst, Herr Hauptmann", erwiderte Schütz, indem er die Zigarre einsteckte und dann mit einiger Mühe seinen Stummel anzündete. „Meines Erachtens kommen wir bald nach Clermont", sagte er dann. „Das ist eine Stadt, in der es hoffentlich ein paar Bäckerläden und Weinhandlungen gibt." „Der Herr stärke Ihre Rede, Schütz", rief Schwarz wild. „Was nützen uns aber Bäckerläden und Wein handlungen, in denen nichts zu haben ist? So, da haben wir wieder einen Nassauer", fuhr er ärgerlich weiter. „Ein niederträchtiges Wetter das! Alle Viertel stunden regnet es Bindfäden, und dazu noch dieser miserable Weg." „Ein trockener Weg wäre freilich angenehm", er widerte Schütz. „So lange aber diese angestrengten Märsche dauern, ist Regenwetter besser als Sonnenhitze." Neben seinem Zuge dahinschreitend, konnte Schütz ungestört seinen Gedanken nachhängen, die sich sehr häufig mit Irma bewegten. Die letzten Wochen vor dem Ausmarsche waren für ihn eine Zeit voller Sorgen und marternder Zweifel gewesen. Sein zuversichtlicher Glaube, daß ihm das schöne Mädchen vom Schicksal zugedacht sei, hatte eines Tages eine starke Erschütterung erfahren, als ein Kamerad im engeren Kreise äußerte, Major Berger und Fräulein Hartfeld dürften wohl bald durch ihre Verlobung überraschen, und man demselben entgegnete, daß dieser Fall die Gesellschaft Passau's kaum mehr überraschen werde. Er hatte damals einen heftigen Stich im Herzen empfunden, und sein seliges Hoffen und Träumen war von diesem Augenblicke an den Qualen der Eifersucht gewichen. Major Berger war der Einzige, der ihm gefährlich erschien, weil er in seinen Augen das Ideal eines Mannes verkörperte. Der lebensfrohe Optimist wurde mit einemmal kopfhängerisch und einsilbig, mied die Kreise seiner Kameraden, und hing auf einsamen Spaziergängen düsteren Gedanken nach. Villa Nonnen gut mied er vollständig, und auch mit seinem Freunde Hartfeld kam er nur selten zusammen. Bald darauf trug der Telegraph die wie eine Fanfare wirkende Emser Depesche nach allen Himmelsrichtungen, und Irma reiste mit Georg in ihre Heimat zurück. Die Ereignisse drängten sich, eine Begeisterung ohnegleichen erfaßte jedes deutsche Herz und zwei Wochen nach dem Beginn der Mobilmachung vernahm das Bataillon den Kanonendonner von Weißenburg. Schütz erfuhr auf der Reise nach Germersheim von Georg, daß Irma bei der freiwilligen Ambulanz eingetreten sei, und er verehrte sie von diesem Augen blicke an wie ein höheres Wesen. Bei dieser Gelegen heit teilte er dem Freunde seinen Herzenskummer mit. Hartfeld gab ihm die Versicherung, daß die Folgerungen der Passauer Gesellschaftskreise hinsichtlich des Majors und seiner Schwester jeder Grundlage entbehrten. Gleichzeitig machte er Schütz zum Vertrauten seines Familienunglücks. Bereits vor dieser Rücksprache mit Hartfeld hatte Schütz den Entschluß gefaßt, seinen quälenden Zweifeln durch den nachfolgenden Brief an Irma ein Ende zu machen: „Passau, den 20. Juli 1870. Mein sehr geehrtes, gnädiges Fräulein! In zwei Tagen wird das Bataillon von hier ab marschieren, nm in den Reihen der deutschen Truppen für das teure Vaterland zu kämpfen. Gar viele, die voller Begeisterung und mit der frohen Hoffnung ins Feld ziehen, die Heimat und die geliebten Angehörigen nach einem glücklichen Siege gesund und wohlbehalten wiederzuseheu, werden nicht mehr zurückkehren, und auch mir kann dieses Los vom Schicksal beschieden sein. Es drängt mich deshalb, Ihnen vorher zu gestehen, daß ich Sie von ganzem Herzen liebe, und daß der Gedanke, Sie könnten dereinst meine Lebensgefährtin werden, die höchste Seligkeit für mich in sich schließt. Eine mir wunderbar erscheinende Fügung führte mich vor vierzehn Monaten zum ersten Mal in Ihre Nähe, und seit dieser Zeit gehört mein ganzes Fühlen und Denken Ihnen. Ich war nämlich im Mai vorigen Jahres in Kaufbeuren. Bei einem Spaziergange in der Umgegend dieses Städtchens verfehlte ich den Weg — ich wollte zum Römerturm bei Großkemnat — und kam auf dem nach Irsee führenden Waldpfade an eine prächtige Lourdesgrotte. Im Gebüsche ver steckt, war ich Zeuge Ihrer weltabgeschlossenen Andacht, und bei Ihrem Anblick durchströmte mich das tiefe, heiße Gefühl, das mich bis zum letzten Atemzuge beherrschen wird. Eine heilige Scheu hinderte mich damals, meiner ersten Eingebung, Ihnen unauffällig zu folgen, um indirekt Ihr Elternhaus auszukund schaften, nachzugeben. Ich blieb zurück und ließ mich aus dem Betstuhl vor der Grotte, auf dem Sie gebetet hatten, auf die Knie nieder und flehte zu dem licht vollen Muttergottesbilde empor: Gib mir dieses Mäd chen! Seitdem fühle ich mich verlobt mit Ihnen, heilig und unverbrüchlich, und nur Sie, verehrtes Fräulein, können mich von meinem Verlöbnis entbinden. Ich wußte ein Jahr lang nicht, wer das holde Mädchen sei, an das ich Tag und Nacht denken mußte, und wollte im vergangenen Juni Urlaub nehmen, um dessen Spur ausfindig zu machen — da