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an den ihr Vater die Spielsumme verloren, von dem die geheimnisvollen Geldsendungen herrührten? Mit stockendem Atem fragte sie: „Waren Sie früher in In golstadt, Herr Major?" „Ja", erwiderte Berger nach einigem Zögern. „Kannten Sie meinen Vater?" „Ja, ich kannte ihn sehr gut." „Sie wissen, daß er ein Spieler war, daß er wegen einer Spielschuld eine hohe Summe unterschlug und als Selbstmörder endete?" „Ihr Vater war kein Spieler und hat nichts ver untreut; er ist so unschuldig wie Sie und ich; nur ein entsetzliches Schicksal verfolgt ihn." „Verfolgt ihn? Mein Vater ist doch tot!" „Hat ihn verfolgt, wollte ich sagen." „Und Sie wissen das, Herr Major, und schweigen — schweigen siebzehn Jahre! Und meine Mutter, mein Großvater — Alles glaubt an seine Schuld!" „Ich habe keinen Beweis für seine Unschuld, Irma", erwiderte Berger mit gebrochener Stimme und zucken den Lippen. „Herr Major, was soll ich denken? Ich stehe vor einem Rätsel! Ihre Stellung, Ihr Ansehen reicht allein schon hin, meinem toten Vater und der ganzen Familie die Ehre wieder zu geben, und Sie schweigen! Bitte lesen Sie diesen Brief! Es drängt mich, Ihnen alles zu sagen; Sie sollen nun alles wissen!" Berger nahm den Brief und sah nach der Unter schrift. „Von Ihrer Mutter? Es widerstrebt mir —" „Bitte, lesen Sie nur, Herr Major!" Berger fühlte den Blick des Mädchens mit fieber hafter Spannung auf sich ruhen; aber der Inhalt des Briefes schien ihn so gewaltig zu packen, daß er die Herrschaft über seinen Willen verlor. In seinen Gesichtszügen zuckte es, sein Atem flog wie in heftigem Fieber und die Finger seiner Linken klammerten sich krampfhaft an die hölzerne Brüstung des Balkons. „Es ist nicht wahr! . . . „Gräßliche Verblendung! Es ist ja nicht wahr!" rief er wie ein Wahnwitziger. „Entsetzliches Verhängnis ... wie lange soll es noch dauern! Gibt es denn keinen Gott?" „Was soll ich von Ihrem sonderbaren Verhalten denken? Sagen Sie mir alles, was Sie wissen!" „Mir fehlen die Beweise für Ihres Vaters Unschuld; aber er ist unschuldig, so wahr ich lebe!" „Warum haben Sie uns nie besucht, obwohl Sie in nächster Nähe waren? Sie sind jedenfalls der einzige —" „Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich stören sollte", sagte plötzlich der Rittmeister von Fernwald, welcher unter der Türe erschien und ein paar Augen blicke betroffen stehen blieb. „Mein Kompliment, gnädiges Fräulein! Grüß Dich Gott, Georg! Ich bringe eine sensationelle Neuheit: Der Krieg mit Frank reich ist unvermeidlich!" „Es ist großartig, Herr Major! Das tut einem alten Soldatenherzen wohl! Vollkommen korrekt ab gefertigt, der Benedetti; eine unglaubliche Frechheit von diesem Gramont!" rief der alte Fernwald, der mit der Baronin gleichfalls auf den Balkon heraustrat. „Was hat sich denn ereignet?" fragte Berger, der rasch seine Fassung wieder gewonnen hatte. „Ich habe die Stadt vor etwa einer Stunde verlassen; da war noch nichts bekannt." „Das Telegramm ist vor einer halben Stunde eingetroffen", erwiderte der Rittmeister, „wir Habens frisch vom Druck weg. Hören Sie meine Herrschaften: „Passau, 13. Juli, Abends 7^ Uhr. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" veröffentlicht durch ein Extrablatt soeben das nachfolgende, offenbar aus dem Kgl. Kabinet stammende Telegramm: „Nachdem die Nachricht von der Entsagung des Prinzen von Hohenzollern der Kaiser!, französischen Regierung von der Kal. spanischen amtlich mitgeteilt worden ist, hat der französische Botschafter in Ems an Seine Majestät den König noch die Forderung gestellt, ihn zu ermächtigen, daß er nach Paris tele graphiere, Seine Majestät der König verpflichte sich für alle Zukunft, niemals wieder seine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre Kandidatur zurückkommen sollten. Seine Majestät hat es darauf abgelehnt, den französischen Botschafter nochmals zu empfangen, und demselben durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, daß Seine Majestät dem Bot schafter nichts weiter mitzuteilen habe." „Bravo! Das war die gebührende Antwort!" rief Berger. „Ein Eingehen auf die unerhörte Forderung Benedetti's wäre eine Schmach gewesen. Nun dürfte allerdings der Krieg unvermeidlich sein." „Glauben Sie, Herr Majors daß sich auch die süddeutfchen Staaten dem norddeutschen Bunde an- schließen?" fragte die Baronin. „Mit größter Wahrscheinlichkeit. Welcher Deutsche könnte müßig zuschauen, wenn Frankreich völlig grund los den Krieg vom Zaune bricht und den deutschen Rhein bedroht? Diese Frage wird sich übrigens bald entscheiden müssen." „Oh, daß ich alt bin!" rief der Greis. „Könnte ich doch auch noch mit!" „Gnädiges Fräulein", wandte sich Berger an das junge Mädchen, das in Gedanken am Balkongeländer lehnte, „wenn Sie Ihren Bruder als Begleiter haben wollen, dürfen Sie die Heimreise nicht länger auf- fchieben. In ein paar Tagen könnte es zu spät sein." „Dann reise ich morgen ab. Kann mein Bruder sofort Urlaub bekommen, Herr Major?" „Ich werde heute noch mit seinem Hauptmann sprechen und dafür sorgen, daß er sofort beurlaubt wird." „Ich danke Ihnen vielmals, Herr Major." „Ich hoffe, Sie morgen nochmals zu sehen, gnädiges Fräulein", sagte Berger, indem er Irma die Hand reichte; „wenn nicht aus Villa Nonnengut, so doch auf dem Bahnhofe. Die Herrschaften werden gütigst entschuldigen wenn, ich mich für heute empfehle?!" Ich habe noch einiges zu erledigen und möchte vor her noch einen Abendspaziergang machen." „Ist es Dir angenehm, wenn ich Dich begleite, Georg?" fragte der Rittmeister. „Sehr angenehm, Robert." „Die Herren bleiben doch zum Abendtisch bei uns?" fragte die Baronin. „Es ist bereits gedeckt." Berger konnte flicht umhin, die Einladung anzu nehmen. Als die beiden Freunde eine halbe Stunde später die Villa verließen, war die Dämmerung hereinge brochen. „Welchen Weg willst Du einschlagen?" fragte der Rittmeister. „Wenn Du einverstanden bist, gehen wir nach Oberhaus und von da aus über die Oberhauser Leite zur Donaubrücke." „Ich bin mit allem einverstanden. Der Abstieg über das ziemlich steil abfallende Buchengelände dürfte jedoch zur Nachtzeit etwas gefährlich sein." „Es muß jeden Augenblick der Mond kommen," erwiderte Berger. Den etwas beschwerlichen aber landschaftlich sehr abwechslungsreichen Weg von Nonnengut herab zur Ilzstadt und von da auf die hochthronende Veste Ober haus legten die beiden Freunde fast schweigend zurück. Das Ravelintor und den dunkeln Festungshof durch schreitend, gelangten sie nach kurzer Zeit auf den Neuwall, dessen äußerstes Ende durch eine starke Holz einfriedigung abgeschlossen ist, bei der eine Sitzbank zum behaglichen Genüsse des prächtigen Panoramas einladet. Einige Alarmgeschütze dräuen mit ihren Feuerschlünden von der schroff abfallenden Höhe auf den grünen Donaustrom und die Stadt hinab, die in schwindelnder Tiefe auf der keilförmigen Halbinsel liegt und von diesem Punkte aus alle Einzelnheiten ihrer Reize dem Beschauer enthüllt. „Erlaube mir eine diskrete Frage, Georg", begann der Rittmeister, nachdem sie sich aus der Bank nieder gelassen hatten: „Uebermorgen läuft mein Urlaub ab, und ich möchte vorher noch in einer Sache Klarheit haben, die mich längst beschäftigt. Liebst Du Fräulein Hartfeld?" „Wie kommst Du zu dieser sonderbaren Frage, Robert?" erwiderte Berger betroffen. „Es besteht allgemein die Vermutung, daß Du Dich Fräulein Irma gegenüber mit ernsten Absichten trägst." „Und wodurch habe ich zu dieser Vermutung Anlaß geboten?" fragte Berger etwas erregt. „Durch das ungewöhnliche Interesse, das Du vom ersten Augenblicke an für das Fräulein an den Tag gelegt hast. Auch ich bin zu diesem Schluffe gelangt und möchte Dich deshalb um eine bestimmte Antwort bitten." „Du wirst einsehen, Robert, daß mich Deine Frage eigentümlich berühren muß?" „Als Freund vermag ich das nicht einzusehen. Mich berühren im Gegenteil Deine ausweichenden Bemerkungen eigentümlich. Meine Frage entsprang nicht der Neugier, sondern einem tieferen persönlichen Interesse. Ich liebe Fräulein Irma und beabsichtigte, ihr vor meiner Abreise noch meine Hand in dem Falle anzubieten, wenn Du keine ernsteren Absichten hegst." „Und im andern Falle würdest Du ohne Groll zurücktreten, Robert?" „Ich glaube mit schwerem Herzen, aber jedenfalls ohne Groll. Dir opfere ich mein Leben — alles!" erwiderte Fernwald mit Wärme. „Du sollst mir weder Dein Leben, noch Deine Herzensneigung opfern, Robert", sagte Berger bewegt, indem er Fernwalds Hand ergriff und drückte. „Bleib mir nur immer der alte, treue Freund, wie bisher. Sieh, Robert, ich bin der ärmste Mensch und fasse immer neuen Mut, wenn ich die Ueberzeugung gewinne, daß mich jemand liebt. Die Neigung, die ich für Irma empfinde, tut der Deinen keinen Eintrag; sie ist eine — väterliche." „Ein so idealer Standpunkt entzieht sich meinem Verständnis. Du fängst an, rätselhaft zu werden!" „Robert, Du zwingst mich zu einem Geständnis, das mir schwer fällt — auch dem besten Freunde gegenüber. Bis heute kennt mein Geheimnis nur Einer auf der Welt; Du sollst der Zweite sein: Irma und Leutnant Hartfeld sind — meine Kinder!" Der Rittmeister erhob sich rasch und starrte längere Zeit vollständig verblüfft auf seinen Freund. Der ruhige Ernst in Berger's Zügen aber gab ihm endlich die Fassung wieder. „Ich weiß nicht, träumt mir, oder bin ich verrückt!" rief er. „Georg, Du wirst einsehen —" „Setze Dich, Robert", unterbrach ihn Berger, „ich will Dir mein ganzes Elend erzählen." Ein paar Augenblicke noch besann sich der Major, dann begann er: „Ich bin der Sohn des Obersten Hartfeld und habe in meiner Jugend die zum Offizier erforderliche Vorbildung erhalten. Im Alter von neunzehn Jahren wurde ich Junker. Uebersprudelnd, lebenslustig und leichtsinnig wie ich damals war, ließ ich mir leider so manchen törichten Streich auch dienstlich zu Schulden kommen und hatte deshalb wenig Aussicht, Leutnant zu werden. Es liegt mir selbstverständlich fern, das gegen mich angewendete Verfahren meiner damaligen Vorgesetzten zu tadeln, die jedenfalls nach bestem Wissen und Gewissen pflichtgemäß zu handeln glaubten. Nach meiner heutigen, ganz objektiven Beurteilung habe ich mir nichts zu Schulden kommen lassen, was zu ernsten Bedenken tatsächlich Anlaß geboten hätte. Kurz, ich sah mich gezwungen, den Abschied zu nehmen. Am Sterbebette meines Vaters aber, dem das Fehl schlägen seines Lieblingswunsches sehr nahe ging, kam mir der Ernst des Lebens zum Bewußtsein. Ich habe das Grab meines überaus guten Vaters als ein innerlich vollkommen veränderter Mensch verlassen." Berger erzählte seinem gespannt lauschenden Freunde hierauf die uns bekannten Ereignisse bis zu jenem Augenblicke, als er in die mit den Eisschollen kämpfende Donau stürzte, und fuhr dann fort: „Ich befand mich so ziemlich in der Mitte des Stromes. Nach Möglichkeit den Eisschollen ausweigend, von denen mich fast wunderbarer Weise nicht eine wesentlich verletzte, schwamm ich mit aller Kraft in der lehmigen, wildreisenden Strömung dahin und suchte das Ufer zu gewinnen. Doch meine Kräfte erlahmten in der eisigen Flut sehr bald. Eine grauenvolle Angst befiel mich plötzlich angesichts des Todes, den ich gesucht hatte, und der mich nun mit grausigen Armen umschlungen hielt. Ich spähte auf der breiten mond beschienenen Wasserfläche nach einem rettenden Gegen stände aus. Ueberall erblickte ich treibende Schollen und ans den Wogen dahinschaukelndes Strauchwerk. Mit vieler Anstrengung gelang es mir, eine große Eisscholle einzuholen. Ich hielt mich mit den Händen an ihrer Hinteren Kante fest, war aber nicht im Stande, mich auf sie zu schwingen. Plötzlich gewahrte ich etwas seitwärts hinter mir einen großen dunklen Gegenstand. Es war ein mächtiger Baum, dessen Wurzeln noch einen Teil der heimatlichen Erde um klammerten. Rasch ließ ich die Scholle los und schwamm mit letzter Kraft dem Baume zu. Bald konnte ich eine aus dem Wasser ragende, langgestreckte Wurzel desselben erfassen, und ein paar Augenblicke darauf lag ich, vom Schüttelfrost geworfen, aber vorerst sicher geborgen, auf dem Stamme. Ich überlegte nun, auf welche Weise ich den Baum an das zunächst gelegene linke Ufer treiben sollte. In der Ferne tauchte die Ingolstädter Donaubrücke auf, und ich hegte die Be fürchtung, daß mein Fahrzeug sich quer über zwei Brückenjoche legen und ein Bollwerk gegen die heran stürmenden Wogen und Eisschollen bilden könnte. Ich hatte nichts zur Verfügung, um diese Gefahr abzu wenden; wenn sie eintraf, war ich verloren. Noch eine halbe Stunde zuvor würde ich einem bekannten Menschen wie ein scheues Wild ausgewichen sein — nun setzte ich meine ganze Hoffnung darauf, daß Jemand aus der Brücke verweilen und mir Hilfe leisten könnte. Ich befand mich in einem erbärmlichen Zustande; alle Rücksichten und Beweggründe, die vor her mein Handeln bestimmt hatten, waren geschwunden; nur ein allmächtiges Gefühl beherrschte mich: Deine Kinder, Deine armen Kinder! Du mußt leben, um jeden Preis! — Willensstärke und Charakter sind nur dem ungebeugten, zielbewußten Geiste eigen; niemand vermag unter normalen Verhältnissen zu er- messeu, welchen Regungen er unterworfen ist, wenn er, vom Schicksal gehetzt, elend und verlassen um sein Leben ringen muß. Ich fand die Brücke leer, als ich mit meinem steuerlosen Fahrzeug in ihre Nähe kam. Der Baum lenkte glücklich an einem Joche vorüber und schoß dann unter der Brücke hinweg, die nach kurzer Zeit weit hinter mir lag. Wie lange meine Fahrt noch dauern sollte, konnte ich nicht ab sehen; denn der Baum hielt sich beständig in der Hauptströmung. Ich konnte stundenlang vielleicht weit in den Tag hinein dahingeschaukelt werden, wenn mich nicht an der nächsten Brücke schon mein Schick sal. ereilte. Nach langer Zeit wandte sich auf einmal die Strömung in starkem Gefälle nach rechts, und ich kam dem Ufer auf etwa zwanzig Schritte nahe. Trotz meines elenden Zustandes faßte ich nun den Entschluß, mich neuerdings in den Strom zu werfen, um das Ufer schwimmend zu erreichen. Mit meinem Mantel, der triefend und bleischwer an mir hing, konnte ich aber einen neuen Sprung ins Wasser nicht wagen. Ich warf ihn daher von mir, und im nächsten Augenblicke kämpfte ich wieder mit den eisigen, schauer lichen Wogen. Die wilde Strömung riß mich längere Zeit wie einen Spielball dahin, und ich kam dem Ufer, das mit riesigen Eisblöcken bedeckt war, nur langsam näher. Endlich aber gelang es mir doch, es zu erreichen und einen herniederhängenden starken Weidenzweig zu erhaschen. Ich war gerettet. Nach langen Umherirren in den mit Schlamm